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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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lag ebenso unverändert da wie die große Stadt im Norden und weiter im Osten dann das Landgut und die Weingärten des Seigneurs. Jedes Mal, wenn ich aufstand und mich um den Haushalt kümmern wollte, packte Maman mich wieder am Arm und bat mich, an ihrer Seite zu bleiben.
    Ich gehorchte, obwohl sie am späten Vormittag so unruhig wurde, dass sie kaum still sitzen konnte. »Was ist denn los, Maman?«, fragte ich sie immer wieder, doch sie murmelte nur: »Wir werden sehen, wir werden sehen«, und starrte weiter aus dem Fenster.
    Schließlich sprang sie erstaunlich behände aus dem Bett und bedeutete mir, ihr zu folgen. Mit dem Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt, zeigte sie auf einen Fleck in weiter Ferne.
    »Deine Augen sind besser als meine, Marie Sybille, sag mir, was du siehst.«
    Ich tat, worum sie mich gebeten. In der Ferne rumpelte ein Karren, gezogen von zwei schwarzen Pferden, auf unser Dorf zu. Dahinter erhob sich eine kleine Staubwolke. Das Gefährt kam immer näher, bis die beiden Männer, die darauf saßen, deutlich zu erkennen waren.
    »Wer ist es?«, keuchte Maman atemlos. Ich bemerkte die Schwerter an den Hüften der beiden, ihre identischen Kappen und Tuniken.
    »Wachen«, erwiderte ich und wunderte mich, welche Angelegenheit so schwerwiegend sein könnte, dass die Männer aus der Stadt den langen Weg zu unserem kleinen Dorf zurücklegten. Dann fiel mir auf, dass hinten im Karren ein dritter Mann saß, ganz in Schwarz gekleidet. »Wachen und ein Ordensmann.«
    Maman begann neben mir so heftig zu zittern, dass ihre Beine nachgaben. Ich fing sie gerade noch auf, bevor sie zu Boden stürzte. Als ich sie unter den Armen packte und zum Bett schleifte, krallte sie sich in meine Schultern, dass es schmerzte, und schrie, die Augen wie eine Irre weit aufgerissen: »Du bist meine Tochter, Marie Sybille, mein einziges Kind! Du weißt, dass ich dich mehr liebe als mein Leben!«
    »Ich weiß, Maman, ich weiß. Und jetzt sei still«, beschwichtigte ich sie, strich die Decke über ihren dünnen Beinen glatt und drückte sie sanft an das Kissen, doch sie war untröstlich. Wieder schaute ich aus dem Fenster, obwohl Maman mich an den Schultern und Armen festhielt, und bemerkte, dass der Karren und die Pferde nach Osten abgebogen waren.
    »Sieh nur, Maman«, verkündete ich fröhlich, »du musst dich vor nichts fürchten, sie nehmen die Straße zum Landgut des Seigneurs. Sie kommen nicht zu uns.«
    Doch meine Worte beruhigten sie nicht. »Ich liebe dich, Marie Sybille, du musst begreifen, wie sehr ich dich liebe!«
    »Ich weiß doch, Maman, und ich liebe dich auch«, erwiderte ich und fürchtete schon, sie sei im Anfangsstadium eines Hirnfiebers, denn das Zittern und die Erregung wollten nicht nachlassen. Dennoch blieben ihre Stirn und ihre Wangen kühl. Also setzte ich mich wieder auf das Bett und nähte, wobei ich vergeblich versuchte, sie zu besänftigen und von ihrer rätselhaften Krankheit abzulenken. Sie kam aber nur leidlich zur Ruhe und sagte schließlich gar nichts mehr. Steif saß sie an das Kissen gelehnt, hatte die Augen weit aufgerissen und den starren Blick nach draußen gerichtet, wobei sie die Decke so fest mit den Händen umklammerte, dass die Knöchel elfenbeinfarben hervortraten.
    Kurz darauf stieß sie einen spitzen Schrei aus, und als ich von meiner Näharbeit aufschaute, sah ich sie wieder in die Ferne starren - auf die Wachen und den Karren, die jetzt vom Anwesen des Seigneurs zurückkehrten.
    Ich stand auf und trat ans Fenster. »Ist schon gut, Maman, siehst du es? Sie fahren in die Stadt zurück, sie kommen nicht hierher ...« Doch während ich sprach, packte mich das Grauen. Denn hinten auf dem Karren saßen nun zwei Personen. Gewiss vermochte ich weder Einzelheiten, geschweige denn Gesichtszüge zu erkennen, die beiden waren einfach zu weit entfernt. Ich konnte lediglich mit Sicherheit sagen, dass die eine Person ein Ordensmann war, und die andere, ebenfalls in Schwarz gekleidet, eine Frau. Doch wir sindin der Lage, Menschen, die uns nahe stehen, selbst aus sehr großer Entfernung zu erkennen.
    Bevor ich mich entsetzt meiner Mutter zuwenden konnte, stand sie bereits neben mir, packte mich mit einer unheimlichen Kraft am Handgelenk und drehte mich zu sich herum. »Ich habe das alles nur getan, weil ich dich liebe, Marie Sybille«, erklärte sie. »Sieh mal, was ich gefunden habe. Sieh nur, was diese Frau mir angetan hat!«
    Einen Moment lang war ich so bestürzt, dass Maman mich zum Bett

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