Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
zerren konnte. Mit einer Hand zog sie unter der Matratze einen Gegenstand hervor, der in zerschlissene schwarze Seide gehüllt war. Sie warf ihn auf die Matratze und schlug die Seide zurück, um den Inhalt zu enthüllen: eine Puppe, zusammengenäht aus ungefärbten Stofffetzen, gefüllt mit Blättern und Erde. Sie war erkennbar weiblich und so bestickt, dass man den Eindruck bekam, sie habe Haare und Gesichtszüge -alles in Schwarz. Ich hatte stets mit dem helleren Faden gewebt und genäht und hätte gemerkt, wenn Garn gefehlt hätte. Jakobs goldener Talisman war mit einem schwarzen Faden an ihre Brust geheftet, und über ihren Augen war ein kleiner schwarzer Stoffstreifen wie eine Augenbinde befestigt. Eiskalt durchfuhr es mich: schwarz, die Farbe des Schutzes, solange man sie freiwillig trägt. Schwarz, die Farbe des Bindens, des Fesselns, wenn dem nicht so ist.
»Ein Fluch«, zischte Maman. »Sie hat mich mit einem Fluch belegt, genauso wie deinen armen Vater. Sie hat ihn umgebracht, verstehst du? Aber mich kann sie nicht umbringen, ich bin Christin, ich glaube an Gott, und Er hat mich gerettet, damit ich dich retten kann. Vater Andre hat das gesagt. Sie wollte dich immer verderben, kleine Marie, und zum Teufel hinführen. Aber das lasse ich nicht zu. Es wundert mich nur, dass sie mich nicht einfach im Schlaf erdrosselt hat ...«
Ich vernahm die Worte meiner Mutter, konnte aber selbst keine finden. Meine Noni, meine geliebte Noni sollte so etwas wie Magie einsetzen, um meine Sehergabe einzuschränken ... Unmöglich. Doch hier vor meinen Augen lag der Beweis, und während meine Mutter zusah, löste ich den goldenen Talisman, der mich mit Jakob und allen verband, die mir ein Leben lang gedient hatten. Dann zog ich die Augenbinde ab. Sogleich kam mir eine Vision, und ich schrie vor Schmerz und gepeinigter Liebe auf. Nun wusste ich, warum Noni es getan hatte, erkannte, was meine Großmutter für mich zu tun gedachte - für das Geschlecht. Ich umschloss den Talisman fest mit der Hand und ließ meine Mutter ohne ein Wort des Abschieds für immer zurück.
Ich rannte. Rannte über die Lehmstraße auf die große Stadt Toulouse zu, so schnell mich meine Füße trugen, bis mir die Lunge brannte, und selbst dann noch lief ich unvermindert weiter, die Gedanken voller schrecklicher Bilder. Bilder von meiner geliebten Noni, die von ihren Häschern gefoltert wurde. Bilder von meiner geliebten Noni, die vor Schmerzen aufschrie und niemanden hatte, der ihr beistand. Bilder von meiner geliebten Noni, wie sie sich in den Flammen wand, ähnlich jener armen Opfer damals vor so vielen Jahren auf dem Marktplatz von Toulouse. Bilder von meiner geliebten Noni, die sich für mich opfern wollte. Da vernahm ich eine finstere, leise Stimme, als hätte mir ein unsichtbares Wesen ins Ohr gesprochen: Dies wird wohl ihr Schicksal sein, wenn du dich nicht beeilst, sie zu retten. Sie werden deine Noni verbrennen, so wie sie eines Tages auch dich verbrennen werden, wenn du nicht sofort zum Kerker läufst, zu dem Kerker im Bauche von Saint-Sernin ...
Allein der Gedanke jagte mir heftige Furcht ein, und ich beschleunigte meine Schritte erneut, bis ich keuchte. Doch mitten in meiner Aufregung kam mir deutlich und langsam in den Sinn, dass Noni gesagt hatte: Vertraue der Göttin ...
Also betete ich, während ich lief. Heilige Mutter Gottes, sende mir Deinen Frieden. Führe mich und gib mir Kraft, meiner Großmutter zu helfen, auf welche Weise auch immer. Zeige mir die Magie, die ich brauche, um sie vor jeglichem Schaden zu bewahren ...
Allmählich beruhigte ich mich und wurde mir der Quelle dieser düsteren Stimme bewusst. Es war die Finsternis, die ich vor langer Zeit, noch als Kind, in einer Vision vor mir gesehen hatte, dann wieder im Kreis, und ein drittes Mal bei meiner Weihe -die Finsternis, die das Licht zu verschlingen suchte.
Halt, befahl plötzlich Jakobs Stimme, und ich folgte ihr. Ich blieb so abrupt stehen, dass ich im aufsteigenden Staub husten musste. Während ich mein Herz der Göttin weiter öffnete, riet mir mein Instinkt, auf der Stelle kehrtzumachen und wenn auch nicht direkt nach Süden ins Dorf, so doch nach Südosten zu gehen, nach Carcassonne ... in die Sicherheit. Diese Weisung führte mich vollkommen vom Pfad ab in den Wald, wo ich mir zwischen Bäumen und Büschen einen Weg bahnte, stundenlang, bis die Nacht hereinbrach und die Dunkelheit mich zwang anzuhalten. Vor Kummer lag ich noch lange wach. Als ich schließlich in
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