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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Wege, gesäumt von Obstbäumen in Kübeln. Zwischen den Bäumen standen dichte Rosenbüsche, dornig und für den bevorstehenden Winter kräftig beschnitten. Hinter den Büschen sah ich in sorgfältig gewählten Abständen lebensgroße Statuen auf hohen Podesten. Am meisten fiel mir die der Hebräerin Judith ins Auge, die ihre Finger in die Haare ihres gefallenen Feindes Holofernes krallte. In der anderen Hand hielt sie ein großes Schwert hoch über den Kopf, bereit, den Hieb auszuführen, der die blutige Aufgabe erfüllen würde, Holofernes den Kopf abzuschlagen.
    Und an den Mauern stapelten sich, fein säuberlich auf dem Pflaster aufgeschichtet, Waffen und Rüstungsteile: Schilde, Helme, Streitkolben, Langschwerter, Dolche und Lanzen, die an Uccellos Meisterwerk erinnerten.
    Der Anblick ließ mich schaudern: Die ganze Zeit hatten sich die Medici auf einen Krieg vorbereitet.
    Ich hob den Blick auf eine kleine Gruppe Soldaten, die untätig ganz in der Nähe standen und sich unterhielten; sie verstummten und musterten mich mit neugierigen, unfreundlichen Blicken.
    Womöglich, so sagte ich mir, war das einfach nur Pieros Werk - das Ergebnis seines Unbehagens und Misstrauens, ähnlich wie die Truppen der Orsini, die ihn an der Porta San Gallo erwarteten. Vielleicht hatte Giuliano das nie gutgeheißen oder für notwendig befunden.
    Trotzdem ging ich zu einem Messerstapel hinüber und holte vorsichtig einen Dolch mit Scheide daraus hervor -den kleinsten von allen. Den Männern gefiel das offenbar nicht; einer von ihnen schickte sich an, zu mir zu kommen und mich aufzuhalten, doch die anderen hielten ihn zurück. Schließlich war ich jetzt eine Medici.
    Ich zog den Dolch aus der Scheide und hielt ihn ins schwindende Sonnenlicht. Er war aus reinem Stahl, zweischneidig mit rasiermesserscharfer Spitze. Schwer atmend stieß ich ihn in die Scheide zurück und steckte ihn dann umständlich in die innere Tasche meines Überkleids.
    Der Wachhabende, der mir aus dem Haus gefolgt war, wartete unter dem Bogengang. Ich schaute ihn herausfordernd an, wohl wissend, dass er gesehen hatte, wie ich die Waffe an mich nahm; er sagte nichts.
    Ich ließ zu, dass er mir in die Bibliothek folgte. Kein Petrarca mehr; ich wollte etwas Unsentimentales, Trockenes und Anspruchsvolles, um meine Gedanken von allem Unerfreulichen abzulenken. Diesmal entschied ich mich für eine Lateinfibel. Wenn alles wie geplant lief - falls es möglich wäre, die Signoria und Piero zu versöhnen -, wollte ich meine Ausbildung in den Klassikern verbessern, da ich viele Gelehrte zu Gast haben würde. Ich wollte meinen Gemahl niemals in Verlegenheit bringen, indem ich wie eine analphabetische Bäuerin erschien, und ich machte mir bereits Gedanken, wie ich meiner neuen Schwägerin imponieren könnte.
    Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schloss zur großen Erleichterung meiner Wachen die Tür. Ich zog das Überkleid aus und legte es über den Stuhl. Dann setzte ich mich ans Feuer. Das Buch sollte eine Einführung für Kinder in die lateinische Sprache sein; ich schlug es auf und las:
    Video, vides, videt, videmus, videtis, vident ...
    Ich sehe, du siehst, er, sie, es sieht - und so weiter. Wäre ich ruhig gewesen, hätte ich die Seiten überflogen, doch ich war so zerstreut, dass ich wie betäubt auf die Wörter starrte. Damit ich mich überhaupt konzentrierte, las ich sie laut.
    Kaum hatte ich damit begonnen, als ich von einem Ge-räusch draußen vor meinem Fenster unterbrochen wurde -dem leisen, melancholischen Läuten einer Glocke, derjenigen, die im Volksmund als die »Kuh« bekannt ist, weil sie dieselbe Tonhöhe hat wie muhendes Rindvieh.
    Es war die Glocke, die alle Bürger von Florenz auf die Piazza della Signoria rief.
47
    Ich ließ das Buch fallen, lief ans Fenster und riss die Fensterläden auf. Es war noch hell draußen, und ich spähte angestrengt die Straße hinunter in Richtung auf die Piazza della Signoria. Das Scheppern wurde schneller; ich sah Diener aus den großen Palazzi strömen, um zu gaffen, Fußgänger blieben unten auf der Straße stehen und wandten ihre Gesichter wie gebannt der Piazza zu. Unter mir lief eine kleine Armee von Männern aus den Haupt-und Nebeneingängen unseres Gebäudes, die Schilde auf Brusthöhe haltend, gezückte Schwerter fest in den Händen.
    Grimmig klammerte ich mich an die Vernunft. Die Bürger waren zusammengerufen worden; ich konnte nicht davon ausgehen, dass sie Pieros Niedergang bejubeln sollten. Es könnte auch

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