Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
spaßten nicht miteinander, wenn sie wichtige Angelegenheiten besprachen - und keiner von beiden gab nach, wenn er einen Entschluss gefasst hatte. »Bitte, stell mich nicht vor die Wahl.«
Lorenzo biss die Zähne zusammen, sein Blick war kalt. »Du wirst dich entscheiden müssen.«
Am selben Abend hatte Giuliano in Lorenzos Wohnung im Erdgeschoss gewartet, bis es Zeit war, Anna zu treffen. Er hatte den ganzen Tag über Lorenzos Bemerkung nachgedacht, dass sie ruiniert wäre, wenn sie nach Rom ginge. Zum ersten Mal gestattete er sich die Überlegung, wie Annas Leben aussähe, wenn der Papst eine Annullierung ihrer Ehe verweigerte.
Sie würde auf Ungnade und Ablehnung stoßen; sie wäre gezwungen, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Geburtsstadt aufzugeben. Ihre Kinder wären als Bastarde gebrandmarkt, man würde ihnen das Erbe der Medici verweigern.
Er war egoistisch gewesen, hatte nur an sich gedacht, als er Anna das Angebot machte. Und er hatte zu leichtfertig von der Annullierung gesprochen in der Hoffnung, sie auf diese Weise dazu zu bringen, mit ihm zu gehen. Außerdem hatte er bis zu jenem Zeitpunkt nicht bedacht, dass sie sein Angebot ablehnen könnte; diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen war einfach zu schmerzhaft gewesen.
Nun erkannte er, dass ihm damit eine qualvolle Wahl erspart bliebe.
Doch als er ihr die Tür öffnete und im schwindenden Tageslicht ihr Gesicht vor sich sah, wusste er, dass er seine Wahl längst getroffen hatte - in dem Augenblick, als er Anna sein Herz schenkte. Ihre Augen, ihre Haut, ihr Gesicht und ihre Gliedmaßen strömten Freude aus; selbst in der trüben Dämmerung leuchtete sie. Ihre Bewegungen, früher unter der Bürde unglücklicher Konsequenzen langsam, waren jetzt lebhaft und leicht. Die neckische Neigung des Kopfes, als sie zu ihm aufschaute, das schwache Lächeln, das auf ihren Lippen blühte, die behende Anmut, mit der sie die Röcke anhob und auf ihn zulief, zeigten ihre Antwort viel deutlicher als Worte.
Ihre Gegenwart erfüllte ihn mit einer solchen Hoffnung, dass er rasch auf sie zuging, sie in die Arme schloss und alle Bedenken vergaß. In jenem Augenblick wurde Giuliano klar, dass er ihr nichts abschlagen konnte, dass sie beide nicht mehr in der Lage waren, das einmal in Bewegung gesetzte Rad anzuhalten. Die Tränen, die in ihm aufstiegen, entsprangen nicht der Freude; es waren Tränen der Trauer um Lorenzo.
Er war eine knappe Stunde mit Anna zusammen; sie redeten nur wenig - gerade so viel, dass Giuliano ihr einen Zeitpunkt und einen Ort mitteilen konnte. Mehr war nicht nötig.
Und als sie fort war - das Licht und Giulianos Zuversicht mitnehmend -, ging er wieder in sein eigenes Zimmer und ließ sich Wein bringen. Er setzte sich auf das Bett und trank, wobei er sich ein Ereignis aus der Kindheit noch einmal deutlich vor Augen führte.
Im Alter von sechs Jahren war er mit Lorenzo und zwei seiner älteren Schwestern, Nannina und Bianca, zu einem Picknick ans Ufer des Arno gegangen. In Begleitung einer tscherkessischen Sklavin waren sie mit der Kutsche über den Ponte Vecchio gefahren, die Brücke, die tausend Jahre zuvor von den Römern erbaut worden war. Nannina war fasziniert von den Läden der Goldschmiede entlang der Brücke; sie sollte bald verheiratet werden und interessierte sich bereits für Frauensachen.
Lorenzo war unruhig und niedergeschlagen gewesen. Er hatte gerade begonnen, die Verpflichtungen der Medici zu übernehmen; seit dem Vorjahr erhielt er Briefe, in denen man ihn um seine Förderung bat, und ihr Vater Piero hatte seinen Ältesten bereits aus politischen Gründen nach Mailand und Rom geschickt. Er war ein reizloser Junge, hatte weit auseinanderstehende, schräge Augen, ein hervorstehendes Kinn und weiches, braunes Haar, das in sauber gestutzten Fransen in eine bleiche, niedrige Stirn fiel; die empfindsame Intelligenz aber, die in diesen Augen aufblitzte, machte ihn auf eigenartige Weise anziehend.
Sie fuhren durch die ländliche Umgebung von Santo Spirito. Giuliano erinnerte sich an hohe Bäume und eine Wiese, die zum friedlichen Fluss hin abfiel. Dort legte die Sklavin ein Leinentuch auf den Boden und holte den Kindern etwas zu essen aus dem Korb. Der Frühling ging zu Ende, es war warm, ein paar träge Wolken zogen über den Himmel, obwohl es tags zuvor noch geregnet hatte. Der Arno war quecksilberfarben, wenn die Sonnenstrahlen ihn trafen, bleiern, wenn nicht.
Lorenzos Niedergeschlagenheit an jenem Tag machte Giuliano traurig.
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