Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
ebenso leicht und gedankenlos, wie Lorenzo sich geopfert hätte, um seinen jüngeren Bruder zu retten. Für Giuliano war es der blanke Hohn, dass Gott ihm ein solches Geschenk wie Annas Liebe gemacht hatte - nur um von ihm zu verlangen, dass er den Mann verletzte, den er am meisten liebte.
Stundenlang saß Giuliano da und sah zu, wie die Dunkelheit der Nacht zunahm, dann allmählich mit der heraufziehenden Dämmerung in Grau überging, am Morgen des Tages, an dem er nach Rom gehen sollte. Er blieb so sitzen, bis seine hartnäckigen Besucher eintrafen, Francesco de' Pazzi und Bernardo Baroncelli. Er konnte sich nicht vorstellen, warum dem Kardinal, der zu Gast war, Giulianos Anwesenheit bei der Messe so überaus wichtig war; doch wenn Lorenzo ihn gebeten hatte zu kommen, dann reichte das als Grund aus.
Er hoffte mit plötzlichem Optimismus, dass Lorenzo vielleicht seine Meinung geändert und dass seine Wut nachgelassen hätte. Womöglich wäre er sogar für ein Gespräch empfänglicher.
Also nahm Giuliano sich zusammen, war ein guter Bruder und kam, wie man es erbeten hatte.
5
Baroncelli zögerte an der Tür der Kathedrale, als für einen kurzen Moment seine Geistesgegenwart wiederkehrte. Hier bestand die Möglichkeit, dem Schicksal zu entfliehen; die Chance, noch ehe ein Alarmzeichen ertönte, nach Hause auf sein Anwesen zu rennen, sein Pferd zu besteigen und sich in ein Königreich zu begeben, in dem weder die Verschwörer noch ihre Opfer Einfluss hatten. Die Pazzi waren mächtig und hatten einen langen Atem. Sie waren imstande, jedwede Anstrengung zu unternehmen, um ihn zur Strecke zu bringen - doch sie hatten weder so gute Verbindungen, noch waren sie so zäh wie die Medici.
Francesco, der ihnen voranging, hatte sich umgedreht und Baroncelli mit einem tödlichen Blick angetrieben. Giu-liano, noch immer durch persönlichen Kummer abgelenkt, achtete nicht darauf und folgte Francesco ins Innere des Duomo, flankiert von einem unsicheren Baroncelli. Dieser hatte das Gefühl, dass er gerade die Schwelle zwischen Vernunft und Wahnsinn überschritten hatte.
Die Luft in der Kathedrale war von Weihrauch geschwängert. Der gewaltige Innenraum des Heiligtums war düster, bis auf die Fläche um den Altar, die im späten Morgenlicht glänzte, das durch die langen Bogenfenster der Kuppel hereinströmte.
Francesco nahm erneut den unauffälligsten Weg an der Nordseite entlang und begab sich zum Altar, dicht gefolgt von Giuliano und Baroncelli. Baroncelli hätte die Augen schließen und den Weg durch die Gerüche finden können, gemessen an dem beißenden Schweißgeruch der Armen und der Arbeiter, dem Lavendelduft der Kaufleute und dem Rosenwasser der Wohlhabenden.
Noch ehe er den Priester zu Gesicht bekam, hörte Baroncelli ihn bereits predigen. Diese Erkenntnis ließ Baron-cellis Puls schneller schlagen; sie waren gerade eben rechtzeitig gekommen, denn die Eucharistie stand kurz bevor.
Nach dem endlos langen Gang durch das Seitenschiff kam Baroncelli mit seinen Begleitern in der ersten Reihe an. Unter leisen Entschuldigungen schlängelten sie sich wieder an ihre ursprünglichen Plätze. Eine kurze Verwirrung kam auf, als Baroncelli versuchte, an Giuliano vorbeizugelangen, um rechts von ihm zu stehen, wie es der Plan vorsah. Giuliano, der Baroncellis Absicht nicht verstand, drängte sich enger an Francesco, der dem jungen Mann daraufhin etwas ins Ohr flüsterte. Giuliano nickte, trat zurück und ließ Baroncelli vorbei; dabei streifte er die Schulter des Büßers, der wartend hinter ihm stand.
Francesco de' Pazzi und Baroncelli hielten den Atem an, gespannt, ob Giuliano sich umdrehen würde, um sich zu entschuldigen - und dabei vielleicht den Mann erkennen würde. Doch Giuliano hatte mit seinem eigenen Elend genug zu tun.
Baroncelli reckte den Hals und schaute an der Reihe entlang, um zu sehen, ob Lorenzo etwas bemerkt hatte; zum Glück war der ältere Medici-Bruder gerade damit beschäftigt, dem Leiter der Familienbank, Francesco Nori, Gehör zu schenken, der ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Wie durch ein Wunder waren nun alle Elemente an ihrem Platz. Baroncelli hatte nichts weiter zu tun, als abzuwarten - und vorzugeben, er lausche der Predigt, während er sich in Wahrheit zügeln musste, um nicht ständig mit der Hand an den Schwertgriff zu fahren.
Die Worte des Priesters ergaben keinen Sinn für ihn; Baroncelli strengte sich an, sie zu verstehen. Vergebung, stimmte der Priester an. Nächstenliebe. Liebe deinen Feind;
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