Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Seiner Meinung nach war ihr Vater zu sehr darauf bedacht, aus Lorenzo vorzeitig einen Erwachsenen zu machen. Um seinen Bruder zum Lachen zu bringen, war Giuliano daher zum Ufer hinuntergelaufen, hatte fröhlich die wütenden Drohungen der Sklavin überhört und war platschend in voller Montur ins Wasser gestapft.
Seine Mätzchen zeigten die gewünschte Wirkung. Lorenzo folgte ihm lachend in Tunika, Umhang, Schuhen und allem. Unterdessen machten Nannina, Bianca und die Sklavin ihrer Missbilligung lauthals Luft. Lorenzo ignorierte sie. Er war ein guter Schwimmer und hatte sich schon bald ein ganzes Stück vom Ufer entfernt. Dann tauchte er unter.
Giuliano folgte ihm vorsichtig, doch da er jünger war, fiel er zurück. Er sah, wie Lorenzo einmal tief Luft holte und dann unter der grauen Oberfläche verschwand. Als er nicht sogleich wieder auftauchte, trat Giuliano Wasser und lachte, denn er rechnete damit, dass sein Bruder unter ihn schwimmen und jeden Augenblick nach seinem Fuß haschen würde.
Sekunden vergingen. Giulianos Lachen verstummte, Angst beschlich ihn - dann begann er nach seinem Bruder zu rufen. Die Frauen am Ufer - aufgrund ihrer schweren Röcke nicht imstande, ins Wasser zu gehen - schrien in Panik auf.
Giuliano war noch ein Kind. Er hatte seine Angst vor dem Tauchen noch nicht überwunden, doch die Liebe zu seinem Bruder brachte ihn dazu, tief Luft zu holen und unterzutauchen. Die Stille dort verwunderte ihn; er riss die Augen auf und spähte angestrengt in die Richtung, in der Lorenzo zuletzt gewesen war.
Der Fluss war nach dem Regen am Tage zuvor noch schlammig; Giulianos Augen brannten, als er suchte. Er sah nichts außer einem großen, unregelmäßigen dunklen Schatten ein Stück weiter weg, tief unter Wasser. Es waren keine menschlichen Umrisse - nicht Lorenzo -, doch es war das Einzige, was er sah, und instinktiv schwamm er darauf zu. Er tauchte auf, holte noch einmal Luft und zwang sich dann, wieder abzutauchen.
Dort, drei Manneslängen tief unter Wasser, lagen die knorrigen Gliedmaßen eines umgestürzten Baumes.
Giulianos Lungen brannten, aber er hatte das Gefühl, dass Lorenzo ganz in der Nähe war, und so schwamm er im ruhigen Wasser mit kräftigen Zügen nach unten. Mit einem letzten, schmerzhaften Stoß gelangte er an die versunkenen Äste und drückte eine Hand an die glitschige Oberfläche des Baumstamms.
Sogleich packte ihn heftiger Schwindel, in den Ohren rauschte es; er schloss die Augen und öffnete den Mund, um Luft zu holen. Doch da war keine Luft, sodass er das faulige Wasser des Arno trank. Er würgte es sofort hervor, dann zwang ihn ein Reflex, noch mehr zu schlucken.
Giuliano ertrank.
Auch wenn er noch ein Kind war, wurde ihm sehr wohl klar, dass er im Begriff war zu sterben. Die Erkenntnis brachte ihn dazu, die Augen erneut aufzureißen und einen letzten Blick auf die Erde zu erhaschen, den er mit in den Himmel nehmen könnte.
In diesem Moment bewegte sich über ihm eine Wolke und ließ einen Sonnenstrahl in den Fluss dringen, sodass der im Wasser aufgelöste Schlamm glitzerte und die Umgebung direkt vor Giuliano erleuchtet wurde.
Eine Armlänge von ihm entfernt starrte ihn der ertrinkende Lorenzo an. Seine Tunika und sein Umhang hatten sich in einem hervorstehenden Ast verfangen, und er hatte sich in seinem panischen Versuch freizukommen noch weiter verheddert.
Beide Brüder waren damals dem Tode nah. Giuliano aber betete mit der Arglosigkeit eines Kindes: Lieber Gott, lass mich meinen Bruder retten.
So unglaublich es war, er hatte die verhedderte Kleidung vom Ast befreit.
Das Unmögliche geschah: Der befreite Lorenzo packte Giulianos Hände und zog ihn mit sich an die Oberfläche.
An das, was danach passierte, hatte Giuliano nur noch verschwommene Erinnerungen. Ihm waren nur noch Bruchstücke im Gedächtnis: wie er sich ins Gras am Ufer übergeben hatte, während die Sklavin ihm auf den Rücken schlug, wie der nasse Lorenzo zitterte, eingewickelt in Picknickdecken; laute Stimmen: Bruder, sag etwas! Er wusste noch, dass Lorenzo auf dem Rückweg in der Kutsche wütend seine Tränen unterdrückte: Riskiere nie dein Leben für mich! Du bist fast gestorben! Vater würde mir nie verzeihen ...! Die unausgesprochene Botschaft aber war lauter: Lorenzo würde sich selbst nie verzeihen.
Während er sich an den Vorfall erinnerte, trank Giuliano Glas um Glas von dem Wein, ohne ihn überhaupt zu schmecken. Er hätte sein Leben mit Freuden hingegeben, um Lorenzos zu retten -
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