Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Kalk zu erkennen. Man drückte mich auf einen Stuhl mit einer niedrigen Lehne. In selbstgefälligem, fröhlichem Tonfall sprach der kleine Satan einen Dritten an, so laut, dass ich jedes Wort verstehen konnte.
»Bittet, so werdet Ihr bekommen.«
»Bringst du mir, worum ich gebeten habe?«
»Wenn ich muss. Wie viel Zeit habe ich danach für mich?«
»Gib uns nicht mehr als eine halbe Stunde, um sicherzugehen.« Die Stimme war männlich, weich. »Gib acht, dass wir die Zeit nicht überschreiten.«
Beim Klang der Stimme griff ich nach der Augenbinde und zog sie mir vom Kopf.
Der Teufel war bereits gegangen, seine Schritte hallten durch den Flur. Der Mann, der vor mir aufragte und zur selben Zeit nach dem Tuch langte, als ich es entfernte, war glatt rasiert und hatte weiches, lockiges, schulterlanges Haar, braun und rostfarben, mit einem Scheitel in der Mitte. Auch er trug die Kutte eines Dieners Marias.
Im ersten Augenblick erkannte ich ihn nicht wieder. Ohne den Bart erschien sein Kinn markant, überraschend spitz, seine Wangenknochen und der Kiefer eckiger; die Stoppeln, die im diffusen Licht glitzerten, waren jetzt hauptsächlich silbergrau. Er sah noch immer gut aus; wären seine Gesichtszüge nur etwas vollkommener gewesen -die Augen nicht so tiefliegend, der Nasenrücken weniger hervorstehend, die Oberlippe etwas voller -, wäre er einfach schön gewesen. Leonardo lächelte angesichts meiner Verwirrung, was die Falten in den Winkeln seiner hellgrauen Augen noch mehr hervortreten ließ.
Ich zog mir die Wolle aus den Ohren und sprach seinen Namen aus. Instinktiv erhob ich mich. Sein Anblick rief Erinnerungen an meinen Giuliano wach, an Lorenzo. Mir fiel sein Brief an Giuliano ein, in dem er ihn über die Absichten des Herzogs von Mailand in Kenntnis setzte, und war dankbar. Ich wollte ihn als einen guten Freund umarmen, als Mitglied der Familie.
Ihm ging es genauso. Ich sah es an seinem strahlenden, wenngleich unsicheren Lächeln, an seinen Armen, die entschlossen herabhingen, jedoch angespannt waren in dem Wunsch, sich auszustrecken, zu berühren, zu umfassen. Wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er seine Fingerspitzen an mein Gesicht gelegt und die Konturen dort gelesen. Er liebte mich, und ich verstand nicht, warum.
Hinter ihm war ein Fenster mit einem Leinentuch verhängt, das genau auf die Maße des Fensters zugeschnitten war; es hing an einem Stab und war an Seilen befestigt, mit denen man es hochziehen oder herablassen konnte. Im Augenblick war das Leinentuch hochgezogen und offenbarte eine dicke Schicht Ölpapier - undurchsichtig genug, um die Gegend dahinter auszublenden, aber so durchsichtig, um gelbes, gefiltertes Licht hereinzulassen.
»Bitte, setzt Euch«, sagte er, dann deutete er auf einen Hocker. »Darf ich?« Als ich nickte, zog er ihn über den Steinboden und setzte sich vor mich.
Hinter ihm stand eine Staffelei mit einer großen Holzplatte; ich beugte mich vor und erhaschte einen flüchtigen Blick auf cremefarbenes Papier, das über den oberen Rand der Platte gefaltet und an die Staffelei gedrückt war, um sie festzuklemmen. Links von der Staffelei brannte auf einem kleinen Tisch eine Lampe, deren Licht auf verstreute Holzkohlenstücke und einen kleinen Stapel weicher Hühnerfedern fiel. Auf dem Boden daneben entdeckte ich einen Korb mit Eiern, eine verkorkte Flasche Öl und ein paar zerknüllte, fleckige Lumpen.
»Madonna Lisa«, sagte er warmherzig. Das strenge Schwarz der Robe betonte seine hohlen Wangen. »Es ist lange her.« Plötzlich überkam ihn eine merkwürdige Zurückhaltung. Sein Lächeln schwand; sein Tonfall wurde förmlicher. »Bitte, verzeiht die Heimlichtuerei. Sie schützt Euch ebenso wie uns. Ich hoffe, Salai hat Euch nicht in Angst und Schrecken versetzt.«
Salai: kleiner Satan. Der perfekte Spitzname. Ich lachte kurz auf. »Nein. Nicht sehr.«
Angesichts meiner Belustigung hellte sich seine Miene auf. »Gian Giacomo ist sein richtiger Name, aber er passt nicht so gut zu ihm. Unverbesserlich, der Knabe. Er kam als Straßenjunge zu mir; in den letzten paar Jahren habe ich mir die größte Mühe gegeben, ihn zu erziehen. Er hat seine Buchstaben gelernt, wenn auch schlecht, und gibt einen passablen Lehrjungen für einen Künstler ab. Dennoch verzweifle ich zuweilen, wenn ich ihm immer wieder einen kultivierteren Umgang beibringen will. Doch er ist treu bis in den Tod und von daher sehr nützlich.« Sein Tonfall wurde freundlich. »Ihr seht gut aus, Madonna. Die
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