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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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geben?«
    Er hob eine Augenbraue, ließ seine Konzentration jedoch nicht durch die Unterbrechung beeinträchtigen. »Ich bin mir noch nicht sicher, wem ich es geben werde. Vielleicht auch niemandem.«
    Ich runzelte die Stirn. Sogleich folgte ein milder Tadel. »Nein, nein ... Jetzt nur lächeln. Denkt an etwas Schönes.«
    »An etwas Schönes? Das gibt es nicht in meinem Leben.«
    Gelinde überrascht schaute er auf. »Ihr habt Euren
    Sohn. Ist das nicht genug?«
    Ich lachte verlegen auf. »Mehr als das.«
    »Gut. Und Ihr habt Erinnerungen an Euren Giuliano, oder?«
    Ich nickte.
    »Dann stellt Euch vor ...« Er klang etwas traurig. »Stellt Euch vor, Ihr wärt wieder mit Giuliano zusammen«, sagte er mit einer solchen Wehmut, dass mich das Gefühl beschlich, er spräche ebenso sehr zu sich selbst wie mit mir. »Stellt Euch vor, Ihr zeigtet ihm zum ersten Mal sein Kind.«
    Ich legte meine Traurigkeit ab und gab meiner Phantasie nach. Ich spürte, wie meine Gesichtszüge schmolzen und weicher wurden, aber ich vermochte nicht richtig zu lächeln.
    Als ich ging, war mein größter Wunsch, alles Erdenkliche zu tun, um Pieros Wiederkehr zu erleichtern. Doch nach meiner Begegnung mit Leonardo blieb meine heimliche nächtliche Suche tagelang vergeblich: Der alte Brief war aus Francescos Schreibtisch verschwunden, ein neuer tauchte nicht auf.
    Am siebten Abend indes fand ich einen zweimal gefalteten Brief mit gebrochenem Siegel aus schwarzem Wachs. Ich öffnete ihn mit fahrigen Fingern und las:
    Piero hat Kontakt zu Virgines Orsini aufgenommen, seiner Soldatenkusine aus Neapel. Es hat den Anschein, als stelle er Truppen zusammen, offensichtlich als Reaktion auf die Anfrage von Papst Alexander nach einer Armee, um die Pisaner vor König Karls Rückkehr zu schützen. Aber wer will schon wissen, ob eine solche Streitmacht, einmal zusammengestellt, nicht ebenso gut ihren Weg nach Florenz nimmt, nur mit anderer Zielrichtung?
    Kardinal Giovanni legt natürlich ein gutes Wort für seinen Bruder ein. Er findet Gehör beim Papst - aber das tue ich auch. Seine Heiligkeit hat im Übrigen ein Breve verfasst, das in Kürze der Signoria überreicht wird. Er hat König Karl mit der Exkommunikation gedroht, falls er und seine Armee Italien nicht verlassen, und Florenz selbst ebenso, falls die Stadt Karl auch weiterhin unterstützt. Außerdem hat er dem Propheten verboten zu predigen.
    Letzteres könnt Ihr ignorieren und mir vertrauen. Tatsächlich sollte unser Prophet seine Inbrunst jetzt verdoppeln, besonders gegen die Medici. Ich werde dafür sorgen, dass Seine Heiligkeit seine Haltung lockert. Was Karl betrifft - es wäre am besten, wenn der Mönch sich distanzierte.
    Ich habe an Ludovico geschrieben. Wir können ihm nicht vertrauen, aber es mag sein, dass wir vielleicht auf ihn zurückgreifen müssen, wenn wir Männer brauchen, falls Piero sich entschließt, in nächster Zeit die Stadt anzugehen.
    Ich weiß Eure Einladung zu schätzen, doch es wäre zu früh für mich, nach Florenz zu kommen. Lasst uns abwarten, was Piero plant.
    Richtet meinen Vettern herzliche Grüße von mir aus -wie schön es ist, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen und Messer Iacopo gerächt zu wissen. Florenz war immer unser Zuhause und wird es auch ewig bleiben.
    Meinen Vettern ... Messer Iacopo gerächt.
    Im Geist ging ich die Jahre zurück bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine Mutter im Duomo stand und weinte, als sie vom Tod ihres geliebten Giuliano sprach. Bis zu dem Augenblick, in dem ich zu dem Astrologen in seiner Kutsche aufschaute.
    In Euren Sternen habe ich einen Akt der Gewalt gesehen, der Eure Vergangenheit und Zukunft ist ... Was andere begonnen haben, müsst Ihr zu Ende führen ...
59
    »Der Briefeschreiber gehört zu den Pazzis«, sagte ich. Leonardo war ein Muster an Selbstbeherrschung. Doch als ich an jenem regnerischen Herbsttag mit ihm redete, zwei Tage nachdem ich den Brief gefunden hatte, fiel mir sein Unbehagen auf.
    Sorgfältig in Positur gebracht, saß ich auf dem Hocker, während er sich über die Staffelei beugte. Ich hatte darauf bestanden, mir die Anfänge des Porträts anzusehen, bevor ich Platz nahm, um Modell zu sitzen. Meine Gesichtszüge waren mit Schwarz umrissen, die Ränder durch Schichten aus trübem verdaccio weich gezeichnet; unterhalb meines rechten Kiefers, in der Höhlung meiner rechten Wange und unter meinem rechten Nasenloch hatten sich Schatten gesammelt. Ich starrte den Betrachter mit beunruhigend leeren weißen Augen

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