Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
eingelassen hatte, oder dass Salai es ihr gesagt hatte; sie dachte wahrscheinlich, es sei nur ein buonomo, der den anderen ausspionierte.
An dem Tag, nachdem ich das Zeichen mit dem Buch gegeben hatte, sollte ich zur Vesper in die Santissima Annunziata gehen, angeblich um zu beten.
Zwei Herzen schlugen in meiner Brust: Das eine war schwer vor Kummer angesichts der Erinnerungen, die durch das Gespräch über die Medici aufgewühlt worden waren; das andere war leicht, froh, endlich etwas für die Beseitigung Savonarolas tun zu können, für den Machtverlust Francescos und Pieros Wiederkehr.
»Es gibt noch etwas, das Ihr tun könnt, um uns zu helfen«, sagte Leonardo zu mir. Er führte mich an den langen Tisch, der übersät war mit Malerutensilien. Die mit Leim und Gips grundierte Platte aus Pappelholz lag obenauf, bedeckt mit dem Holzkohlekarton von mir. Die Ecken des Papiers waren mit vier glatten Steinen auf die Holzplatte gedrückt; die ganze Zeichnung war mit glitzernder, pulverisierter Holzkohle bestreut.
»Ein wenig Zauberei«, sagte Leonardo. »Haltet die Luft an.« Er rückte die Steine zur Seite, griff sehr vorsichtig nach der oberen linken und der unteren rechten Ecke des Papiers und hob es gerade von der Holzplatte. Mit äußerster Sorgfalt trat er vom Tisch zurück und ließ das Pulver von der Zeichnung in einen Eimer auf dem Boden gleiten; dunkler Staub setzte sich wie eine dünne Rußschicht auf sein Gesicht und auf seine Kleidung.
Ich blieb vor der Holzplatte auf dem Tisch stehen und hielt noch immer die Luft an. Auf der glatten, elfenbeinfarbenen Oberfläche der Holzplatte war ich, die Gesichtszüge verschwommen, grau und gespenstisch, und wartete darauf, geboren zu werden.
Ich saß nicht länger als eine halbe Stunde Modell, damit Claudio keinen Verdacht schöpfte. Leonardo trug die Konturzeichnung auf der Platte zur Staffelei hinüber. Er wollte, dass ich mich sofort auf meinen Hocker setzte, ich aber verlangte das Recht, mir zunächst die Werkzeuge anzusehen. Auf dem kleinen Tisch neben der Staffelei lagen drei schlanke Pinsel aus Grauwerk - alle mit sehr feinen Spitzen unterschiedlicher Größe - in einer kleinen Zinnschüssel, die halb mit Öl gefüllt war. Auf einer kleinen Holzpalette lagen getrocknete Farbkügelchen, einige davon halb zermahlen; es gab drei Zinnschüsseln, in der einen Schwarz, in den anderen beiden zwei Schattierungen eines schlammigen Grünbraun.
»Das ist Schwarz aus Mandelschalen und verdaccio«, sagte er, »das Schwarz, um Gesichtszüge zu umreißen, die anderen Farbtöne, um Schatten zu ergänzen. Das verdaccio ist eine Mischung aus dunklem Ocker, cinabrese, Kalkweiß und einem Schuss Schwarz, gerade so viel, wie auf die Spitze eines Palettenmessers passt.«
»Wenn Ihr die Umrisse zeichnet«, fragte ich, »warum muss ich dann sitzen?«
Er sah mich an, als hätte ich eine vollkommen abwegige Frage gestellt. »Ich muss sehen, wie die Schatten fallen. Wie die Konturen Eurer Gesichtszüge hervorgehoben werden, wie sie zurücktreten. Und ich muss Euer Gesicht lebendig vor mir sehen - mit tausend verschiedenen Ausdrücken, während Eure Gedanken wandern -, wie soll ich es sonst für den Betrachter lebhaft darstellen?«
Ich ließ mich dann von ihm auf meinen Hocker setzen und die Hände, den Kopf und den Oberkörper mit geschickter, leichter Berührung in die richtige Positur bringen. Als er zufrieden war, stellte er sich wieder vor die Staffelei und betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Zu dunkel«, entschied er. »Ich mag kein grelles Licht, das die weichen Linien stiehlt, aber wir brauchen mehr .« Er trat ans Fenster und zog den Sonnenschutz an einer Kordel hoch. Sobald die Helligkeit ihm genügte, fragte er sich laut, ob ich die Haare herunterlassen sollte, denn er sei nicht sicher, wie es jetzt wirke - doch ein schelmischer Blick meinerseits brachte ihn zum Schweigen. Ich konnte mir gut vorstellen, was Claudio denken würde, wenn ich mit aufgelöster Frisur aus der Kapelle käme.
Endlich nahm er seinen Pinsel zur Hand. Ich saß lange still, lauschte dem Wispern des nassen Fells auf dem getrockneten Gips und gab mir die größte Mühe, mir nicht die Nase zu kratzen oder zu zappeln. Leonardo war angespannt und unzugänglich; seine volle Aufmerksamkeit war auf das vor ihm liegende Werk gerichtet. Er starrte mein Gesicht an, sah jede Rundung, jede Linie, jeden Schatten, mich aber sah er nicht. Schließlich fragte ich:
»Ist das für Piero? Werdet Ihr es ihm
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