Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
alles ist inzwischen fünfzehn Jahre her; ich habe ihn nur einen Moment lang gesehen. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich mich noch daran erinnere.«
»Doch«, sagte ich. »Ihr habt Euch an mein Gesicht erinnert, obwohl Ihr mich nur einmal im Palazzo Medici gesehen habt. Ihr habt es perfekt skizziert, aus dem Gedächtnis. Und Ihr habt mir genau erzählt, wie man sich ein Gesicht einprägt: Gewiss habt Ihr dieselbe Methode angewandt, um Euch sein Gesicht zu merken. Überallhin nehmt Ihr Euer kleines Notizbuch mit. Ich kann nicht glauben, dass Ihr nie eine Skizze von seinem Gesicht angefertigt habt - zumindest von dem Teil, den Ihr gesehen habt.«
Draußen auf dem Flur waren Schritte zu hören; ich drehte mich um und sah Salai in der Tür stehen. »Sie kann nicht mehr lange bleiben. Die Wolken sind schwarz geworden; da kommt ein starker Regenguss.«
»Verstanden«, sagte Leonardo und entließ den Burschen mit einem Kopfnicken. Er schaute wieder zu mir und holte tief Luft. »Ich muss mich jetzt von Euch verabschieden.«
Ungehalten sagte ich: »Als Ihr mich zum ersten Mal hier getroffen habt, sagtet Ihr, Piero wolle mich sehen. Und ich wollte Euch so gern glauben, dass ich nicht merkte, wie Ihr mich angelogen habt. Jetzt aber sehe ich ganz genau, dass Ihr nicht die Wahrheit sagt. Ihr habt eine Skizze von dem Büßer angefertigt, nicht wahr? Ihr müsst jahrelang nach ihm gesucht haben. Ich habe ein Recht darauf, das Gesicht des Mannes zu sehen, der meinen Vater umgebracht hat. Warum wollt Ihr es mir nicht zeigen?«
Seine Miene versteinerte; er wartete, bis ich ausgeredet hatte, und fragte mich dann nach einer ganzen Weile: »Ist Euch einmal in den Sinn gekommen, Madonna, dass es vielleicht besser für Euch wäre, bestimmte Dinge nicht zu wissen?«
Ich hob an, um zu widersprechen, hielt dann aber inne.
»Giuliano wurde vor langer Zeit ermordet«, sagte er. »Sein Bruder Lorenzo ist tot. Die Medici wurden aus Florenz verbannt. Der Mörder - wenn er noch atmet - wird bestimmt nicht mehr lange leben. Was soll es schon nützen, wenn wir uns die Zeit damit vertreiben, einen Mann zu suchen? Und was sollen wir Eurer Meinung nach tun, wenn wir ihn finden?«
Wieder hatte ich keine Antwort.
»Keiner edlen Sache ist durch Rache gedient. Wir könnten nur alten Schmerz aufwühlen, alten Hass. Wir sind bereits in Umständen gefangen, die aus weit zurückliegenden Fehlern resultieren. Wir können nur hoffen, sie nicht zu wiederholen.«
»Trotzdem habe ich verdient, es zu wissen«, entgegnete ich kühl. »Und ich will nicht belogen werden.«
Bei diesen Worten hob er abrupt das Kinn. »Ich werde Euch niemals belügen. Das könnt Ihr mir glauben. Aber ich werde die Wahrheit vor Euch verbergen, wenn ich der Meinung bin, dass es das Beste für Euch ist. Das fällt mir nicht leicht. Ich vergesse nicht, dass Ihr die Mutter eines Medici-Erben seid. Das ist eine enorme Bürde. Ihr und der Junge seid zu beschützen. Das habe ich mir geschworen, auch wenn mein Herz es mir längst befohlen hatte.«
Ich starrte ihn an. Ich war wütend und enttäuscht; dennoch brachte ich ihm das gleiche tiefe Vertrauen entgegen wie dem Mann, der mich als seine Tochter großgezogen hatte.
»Ihr müsst gehen«, sagte er sanft. »Euer Kutscher darf keinen Verdacht schöpfen. Außerdem regnet es gleich.«
Ich nickte. Ich hob den feuchten Umhang vom Hocker und legte ihn mir um die Schultern. Dann drehte ich mich zu ihm um. »Ich möchte nicht im Unfrieden scheiden.«
»Es herrscht kein Unfriede, nur guter Wille.« Er deutete mit dem Kopf auf das Gemälde. »Ich werde es mitnehmen und daran arbeiten, wenn ich kann. Vielleicht werdet Ihr die Möglichkeit haben, wieder Modell für mich zu sitzen.«
»Das weiß ich.« Ich trat vor und nahm seine Hand; sein Griff war warm und so fest, wie er sein musste. »Bleibt unversehrt. Und gesund.«
»Ihr auch, Madonna Lisa. Ich weiß, Ihr lebt in schwierigen Zeiten. Ich kann nur versprechen, dass am Ende großes Glück auf Euch wartet.«
Er klang überzeugt, doch es tröstete mich nicht. Mein Giuliano war tot; das Glück war für mich - wie schon für meine Mutter - in der Vergangenheit begraben.
Wieder band mir Salai ein dunkles Tuch über die Augen; wieder stopfte er mir ungekämmte Wolle in die Ohren. Mit seiner führenden Hand an meinem Ellenbogen ging ich langsam und unsicher über einen kurzen Flur, blieb dann stehen, bis ein großes Holzstück vor mir - eine Tür, nahm ich an, oder eine große Holzscheibe -
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