Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Überhangs ging ich hinaus und winkte Claudio, der nach wie vor auf der Loggia wartete.
An jenem Abend, nachdem Matteo im Kinderzimmer endlich eingeschlafen war, band Zalumma mir die Ärmel auf. Ich war neugierig und in redseliger Stimmung.
»Hast du Giuliano gekannt?«, fragte ich. »Lorenzos Bruder?«
Sie war bereits in Sorge; ich war aufgelöst und mit unerklärlich feuchtem Haar nach Hause gekommen. Wie Leonardo hatte sie ein Näschen für Betrug. Und als ich nach Giuliano fragte, wurde ihre Stimmung noch düsterer.
»Ich habe ihn nicht gut gekannt«, sagte sie. »Ich bin ihm zu verschiedenen Gelegenheiten begegnet.« Sie schaute auf, richtete den Blick in die ferne Vergangenheit, und ihre Stimme wurde weicher. »Er war ein verblüffender Mann; die wenigen Bilder, die ich von ihm gesehen habe, geben es nicht richtig wieder. Er war sehr glücklich, sehr freundlich, wie ein Kind im besten Sinne des Wortes. Er war auch dann noch freundlich zu anderen, wenn er es nicht nötig hatte. Freundlich zu mir, einer Sklavin.«
»Mochtest du ihn?«
Sie nickte wehmütig, während sie meine Ärmel zusammenfaltete und in den Schrank legte. Dann drehte sie sich wieder zu mir um und machte sich daran, mir das Kleid aufzubinden. »Er hat Eure Mutter von ganzem Herzen geliebt. Sie wäre sehr glücklich mit ihm gewesen.«
»Da war ein Mann. Im Duomo«, sagte ich. »An dem Tag, als Giuliano umgebracht wurde. Jemand ... jemand hat gesehen, wie es geschah. Es waren nicht nur Baroncelli und Francesco de' Pazzi. Es war noch ein weiterer Mann da, der eine Kapuze trug, um sein Gesicht zu verdecken. Er hat den ersten Stich ausgeführt.«
»Da war noch ein anderer Mann?« Sie war bestürzt.
»Ein dritter Mann, der allerdings entkommen konnte. Man hat ihn nie gefunden. Er ist vielleicht noch hier in Florenz.« Mein Kleid fiel zu Boden; ich trat heraus.
Sie gab einen wütenden Laut von sich. »Eure Mutter hat Giuliano mehr geliebt als ihr Leben. Als er starb, dachte ich, sie würde . « Kopfschüttelnd bückte sie sich und hob mein Kleid vom Boden auf.
Ganz leise sagte ich: »Ich glaube, dass ... jemand anders, jemand in Florenz . weiß, wer er ist. Und eines Tages werde ich wissen, wer er ist. Und an dem Tag wird er endlich seinen gerechten Lohn bekommen - durch meine Hand, hoffe ich.«
»Wozu soll das gut sein?«, fragte sie. »Es ist zu spät. Giulianos Leben ist beendet, das Eurer Mutter zerstört. Sie wollte an jenem Abend zu ihm. Wusstet Ihr das? Sie wollte Euren Vater verlassen, um mit Giuliano nach Rom zu gehen . An dem Abend, bevor er umgebracht wurde, ging sie zu ihm, um es ihm zu sagen.«
Ich setzte mich vor den Kamin, um mich aufzuwärmen. An jenem Nachmittag sagte ich Zalumma nichts weiter. Ich dachte an das ruinierte Leben meiner Mutter, während ich in die Flammen starrte, und schwor mir, einen Weg zu finden, sie und unsere beiden Giulianos zu rächen.
Der Winter zog sich hin. Solange Leonardo abwesend war, ging ich fast täglich in die kleine Kapelle der Santissima Annunziata, um zu beten. Der Künstler fehlte mir: Er war mein einziges Bindeglied zu meinem leiblichen Vater und meinem geliebten Giuliano. Ich wusste, dass er ihren Tod ebenso betrauerte wie ich.
Fast an jedem Abend, wenn die Luft rein war - das heißt, wenn Francesco außer Haus war und herumhurte -, schlich ich in sein Arbeitszimmer und durchsuchte den Schreibtisch nach Briefen. Ein paar Wochen lang fand ich nichts. Ich bekämpfte meine Enttäuschung mit dem Gedanken, dass Piero auf dem Weg war. Piero würde kommen, dann würde ich Francesco verlassen und - mit Mat-teo, meinem Vater und Zalumma - bei den Medici Unterschlupf finden.
Doch Piero kam nicht.
Als Gemahlin eines hochrangigen piagnone war ich verpflichtet, auch weiterhin Savonarolas Samstagspredigten für Frauen anzuhören. In Begleitung von Zalumma ging ich nach San Lorenzo und saß in der Nähe des Hochaltars und des Lettners, auf Plätzen, die für Bürger mit engen Verbindungen zum Propheten reserviert waren. Ich ertrug den Gottesdienst nur, weil ich mir vorstellte, zu Leonardo zu gehen und ein schönes Denkmal für meinen Giuliano zu bestellen. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde jedoch von Fra Girolamos klingender, mit Gift erfüllter Stimme erregt, als er seine schweigende Gemeinde ansprach:
»Jene Menschen, die Piero de' Medici und seine Brüder lieben, Giuliano und den sogenannten Kardinal Giovanni ...«
Zalumma und ich starrten geradeaus; ich wagte nicht, sie anzusehen. Schmerz
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