Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Mönchszelle mit einer Schlafstatt; ein größeres Gemach, in dem zwei junge Männer, frische Gipsspuren auf Wangen, Händen und den langen Schürzen, ein Fresko vorbereiteten; und in den Raum, in dem ich Leonardo getroffen hatte.
Mein Porträt stand noch immer auf der Staffelei; Salai setzte mich darüber in Kenntnis, Leonardo habe es in der Eile vergessen. Ich betrachtete das Bild: Bis auf die Umrisse und Schattierungen war meine Haut durch den grellweißen gesso auf dem Holz dargestellt. Ich sah aus wie ein Gespenst, das zur Hälfte Gestalt angenommen hatte.
Ich lächelte dem Gemälde zu.
Lächelnd übermittelte ich Salai dann auch den Inhalt des Briefes. Er schrieb die Wörter langsam und unter Mühen auf, hielt ein paar Mal inne und bat mich, zu wiederholen.
Leichten Herzens verließ ich die Kirche. Leonardos Bemühungen trugen Früchte, dachte ich. Der Papst würde Savonarola nun bestimmt zum Schweigen bringen. Die Feinde der Medici schlugen wild um sich, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich Piero wieder begrüßen konnte.
Ich lächelte, weil ich unwissend war. Ich lächelte, weil ich nicht erkannte, dass der Brief eigentlich alle bedrohte, die mir lieb und teuer waren.
Mit dem Herbst kam die Pest. Savonarola predigte nach wie vor, doch Francesco erlaubte mir, zu Hause zu bleiben. Aus Rom trafen keine neuen Briefe für ihn ein, sodass ich mich nicht hinaus in die Familienkapelle wagen musste. Meine Ausflüge zur Santissima Annunziata waren mir genommen, und aufgrund des sich verschlechternden Wet-ters konnte ich weder auf meinem Balkon sitzen noch durch den Garten wandeln. Ich war gereizt.
Der Verlust des Frühjahrsgetreides verwüstete die Toskana. Groß- und Kleinbauern verließen das kahle Land und begaben sich auf der Suche nach Nahrung in die Stadt. Männer und Frauen standen an den Straßen und bettelten um Brot und Almosen. Sie schliefen auf Kirchentreppen, in den Eingängen der botteghe; Francesco kam eines Morgens zu seinem Laden und fand eine Mutter mit zwei Kindern vor, die an seiner Tür lehnten, tot. Als die Nächte kälter wurden, erfroren manche, die meisten aber starben an Hunger und Pest. Jeder Morgen förderte so viele Leichen zutage, dass es unmöglich war, sie alle zu entsorgen. Florenz begann zu stinken.
Trotz Francescos Wohlstand und seiner Verbindungen bekamen wir den Mangel zu spüren. Zuerst ging Agrippina das Brot aus, dann das Mehl, sodass wir ohne unsere übliche Brühe mit Pasta auskommen mussten; die Jäger brachten uns Geflügel, das wir so lange aßen, bis wir es nicht mehr sehen konnten.
Bis zum Winter waren selbst wir Reichen verzweifelt.
Weihnachten kam und ging, der Jahreswechsel, dann der Karneval - einst eine Zeit des Feierns mit Paraden, großen Gesellschaften und Festessen, doch unter Savona-rolas Führung stellte die neue Signoria diesen heidnischen Pomp unter Strafe.
Schließlich machte das Gerücht die Runde, die Signoria habe beschlossen, öffentliche Lagerbestände an Getreide am Dienstagmorgen, dem sechsten Februar, dem letzten Tag des Karnevals, auf der Piazza del Grano zu einem annehmbaren Preis an das Volk zu verkaufen. Am folgenden Morgen war Frühlingsanfang.
Agrippina, die Köchin, hatte erst ein paar Tage zuvor einen Neffen durch die Pest verloren. Aus Angst, la moria ins Haus einzuschleppen, hatte sie nicht an seiner Beerdigung teilgenommen - doch sie verkündete lauthals, sie könne erst dann Trost finden, wenn sie in den Duomo gehen, eine Kerze anzünden und für seine Seele beten könne. Natürlich war es ihre Pflicht, Korn und Brot für uns zu kaufen. Da war es nur sinnvoll, wenn sie zum Duomo ging, um zu beten, und dann das kurze Stück zur Piazza del Grano zurücklegte, um ihre Einkäufe zu erledigen.
Und ich, unruhig wie ich war, legte Francesco dar, warum ich Agrippina zum Duomo begleiten sollte. Es sei ganz und gar nicht weit; es seien keine Menschenmassen unterwegs; mir sei sehr daran gelegen, zu beten. Zu meiner großen Freude gab er nach.
An dem vereinbarten Dienstag stieg ich also mit Agrippina und Zalumma in die Kutsche, und Claudio fuhr uns nach Osten auf die ziegelrote Kuppel zu.
Der Himmel war klar und von grellem Blau. Die Luft war still, und solange ich reglos in einem Sonnenfleck saß, spürte ich die schwache Wärme; jeder Schatten aber brachte beißende Kälte mit sich. Ich schaute aus der Kutsche auf die Läden, die Häuser, die Kirche, auf die Menschen, die langsam durch die Straßen zogen. Bevor Savonarola das
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