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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ihr in die schmutzige, bloße Hand drücken, doch der Gedanke an Matteo und die Pest brachte mich dazu, das Geldstück stattdessen in ihre Richtung zu werfen.
    Mit tauben, ungeschickten Fingern versuchte sie es zu fangen; es fiel knapp vor dem Kutschenfenster zu Boden, und sie bückte sich danach. Sie war nicht die Einzige. Ein Bauer in der Nähe hatte es gesehen und stürzte sich auf sie; sie begann zu kreischen, sodass bald auch andere vom Lärm angezogen wurden.
    »Verschwindet!«, rief Zalumma. »Lasst uns in Ruhe!«
    Dennoch kamen immer mehr, Männer und Jungen. Einer begann die junge Bettlerin zu schlagen, bis sie einen schrillen Schrei ausstieß und dann plötzlich gespenstisch ruhig zu Boden ging.
    »Sie hat eine Münze - da sind noch mehr!«, sagte jemand. Unsere Pferde wieherten und machten einen Satz nach vorn; die Kutsche tat einen Ruck und geriet ins Wanken.
    »Tod den Reichen!«, rief ein Mann. »Sie nehmen uns das Essen und lassen uns nichts übrig!«
    Schmutzige Gesichter füllten den Rahmen des Fensters aus; Arme streckten sich in die Kutsche, fremde Hände grabschten nach uns. Jemand riss die Tür auf.
    Zalumma neben mit langte in ihr Mieder und zog einen kleinen Dolch heraus. Sie schlug auf die wedelnden Arme ein; ein Mann schrie fluchend auf.
    Dann wurden aus der Menge donnernde Rufe laut, Holz zersplitterte, und es rumpelte, als bräche die Erde auf. Die
    Bettler, die unsere Kutsche überfielen, drehten sich wie Blumen zur Sonne um; im Nu rannten auch sie auf den Lärm zu und ließen uns rasch in Ruhe.
    Ich klammerte mich an den Rahmen der offenen Kutschentür und schaute mich um.
    Die Menge hatte das verschlossene Tor durchbrochen und eilte an den Ständen vorbei; noch während ich zusah, fielen sie über den Zaun her, der die Kornsilos schützte, und rissen ihn nieder. Zwei Männer - der eine noch ein junger Bursche - kletterten an der Seite der Silos hoch und warfen mit den Händen Korn in die verzweifelte Menge unter ihnen.
    Eine ausgemergelte, willkürliche Masse von Leibern wogte nach vorn; zahllose Hände fuhren wie Krallen empor und griffen nach dem rettenden Regen. Mitten aus dem allgemeinen Wahn ertönten Schreie, als die Schnellen und Starken die Langsamen und Kranken niedertrampelten.
    Während die lachenden Männer oben auf den Silos das Meer verhärmter Gesichter unter sich bewarfen, vernahm ich dumpfen, rhythmischen Gesang, leise zunächst, dann immer lauter werdend und sich schnell wie ein Feuer durch die rasende Menge ausbreitend:
    »Palle, palle, palle ...!«
    Ich ergriff Zalummas Arm und drückte ihn fest; ich seufzte laut auf, vergoss aber keine Träne.
    An jenem Tag kamen Dutzende während des Ansturms auf Nahrung ums Leben - niedergetrampelt oder erstickt. Alle verfügbaren Soldaten und Polizisten wurden hinausgeschickt, um den Aufstand zu unterdrücken und die Menschen nach Hause zu schicken - so sie ein solches hatten. Agrippina hatte Rippen und Beine gebrochen; Claudio kam humpelnd mit ihr auf den Armen zur Kutsche zurück. Erstaunlicherweise war es ihm gelungen, etwas von dem gestohlenen Getreide in einem Beutel zu sammeln. Ich rechnete schon beinahe damit, dass Francesco verlangen würde, er solle es zurückgeben - schließlich war es gestohlen -, doch mein Gemahl sagte nichts.
    Die Nachricht vom Ruf der Massen nach den Medici hatte sich herumgesprochen, selbst unter unserer Dienerschaft, und als Francesco an jenem Nachmittag aus seinem Laden zurückkehrte, war seine Miene wie versteinert, und er war ungewöhnlich still. Sobald er von Agrippinas Verletzungen erfuhr, ging er zu ihr ans Bett, murmelte ein paar mitfühlende Worte vor sich hin und ließ seinen Arzt holen.
    Noch nie hatte ich ihn in einer so schlechten Laune erlebt. Als Elena es wagte, schüchtern nachzufragen, ob er von dem Ruf »Palle!« gehört habe, drehte er sich zu ihr um und sagte ziemlich gehässig: »Sprich das Wort in diesem Haus noch einmal aus, und du stehst auf der Straße!«
    An jenem Abend kam mein Vater nicht zum Essen, und Francesco verzichtete darauf; stattdessen ging er - so behauptete er - zu einer Besprechung der Signoria.
    Zalumma und ich redeten wenig miteinander. Doch als wir uns ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten - sie auf ihre Schlafstatt und ich in mein Bett -, sagte ich leise ins Dunkel hinein:
    »Du hattest einen Dolch. Ich möchte auch einen.«
    »Ich gebe Euch meinen«, sagte sie.
    Und am nächsten Morgen löste sie ihr Versprechen ein.
    Der Tag darauf war Aschermittwoch.

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