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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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den Zeigefinger darauf, fest und anklagend.
    Ich stand auf, trat neben ihn und schaute auf die Zeichnung.
    »Ihr hattet recht«, sagte er. »Ich habe direkt nach dem Vorkommnis eine Skizze angefertigt, die ich sehr lange für mich behalten habe. Die hier habe ich vor kurzem in Mailand gezeichnet. Nachdem Ihr mich danach gefragt hattet, wurde mir klar, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem Ihr sie Euch anseht.«
    Es handelte sich um die vollständig ausgeführte Zeichnung eines Männerkopfes, Hals und Schultern nur angedeutet. Er drehte sich gerade um und schaute über die Schulter in weite Ferne. Er war in eine Kapuze gehüllt, die sein Haar und die Ohren verbarg und einen Großteil seines Gesichts überschattete. Nur die Nasenspitze, das Kinn und der Mund waren zu sehen.
    Der Mann hatte den Mund leicht geöffnet, ein Mundwinkel war mit der Drehung des Kopfes nach unten gezogen; in Gedanken hörte ich ihn keuchen. Obwohl seine Augen im Dunkeln verborgen lagen, waren sein Entsetzen, seine verrauchte Wut, seine aufkeimende Reue in der einen brillanten, mit Abscheu erfüllten Abwärtsbewegung der Unterlippe deutlich offenbart, ebenso in der angespannten Halsmuskulatur.
    Ich betrachtete den Mann und hatte das Gefühl, ihn zu kennen, hatte ihn aber noch nie gesehen. »Das ist der Büßer«, sagte ich. »Der Mann, den Ihr im Duomo gesehen habt.«
    »Ja, erkennt Ihr ihn?«
    Ich zögerte und sagte schließlich: »Nein.«
    Er machte Platz auf dem Tisch, nahm die Zeichnung aus der Mappe und legte sie nieder. »Ich habe erst vor kurzem erfahren, was ich Euch zeigen will.« Er nahm ein Stück krümelnder roter Kreide zur Hand und forderte mich durch eine Geste auf, mich dicht neben ihn zu stellen.
    Dann begann er mit einer natürlichen Leichtigkeit zu zeichnen, mit der ein anderer vielleicht ging oder atmete. Zunächst zog er leichte, abgehackte Striche über den Kiefer, dann über das Kinn; es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass er Haare und einen Bart malte. Dabei wurde der Kiefer des Büßers weicher; die Oberlippe verschwand unter einem Schnauzbart. Er zeichnete ein paar Linien, und die Mundwinkel des Mannes waren auf einmal vom Alter gerafft.
    Allmählich tauchte unter seiner Hand ein Mann auf, den ich kannte, ein Mann, den ich jeden Tag meines Lebens gesehen hatte.
    Ich wandte mich ab und schloss die Augen, weil ich mehr nicht sehen wollte.
    »Jetzt erkennt Ihr ihn.« Leonardos Stimme war sehr sanft und unglücklich. Ich nickte, ohne ihn anzuschauen.
    »Seine Beteiligung war kein Zufall, Lisa. Er hat von Anfang an zu der Verschwörung gehört. Er hat sich ihr nicht aus Frömmigkeit angeschlossen, sondern aus Eifersucht, aus Hass. Er verdient es nicht, von jemandem geschützt zu werden. Er hat Anna Lucrezia zerstört. Hat sie vernichtet.«
    Ich kehrte ihm und der Zeichnung den Rücken zu und trat einen Schritt vor.
    »Seid Ihr bei ihm gewesen, Lisa? Habt Ihr ihm etwas gesagt? Habt Ihr mit ihm über mich, über Piero geredet?«
    Ich ging zu meinem Stuhl und setzte mich, faltete die Hände und beugte mich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Ich wollte krank sein. An jenem Tag hatte ich mein Messer bei mir, begierig auf den Augenblick, in dem ich dem dritten Mann begegnete.
    Leonardo blieb neben dem Tisch, neben der Zeichnung stehen, sah mich aber an. »Bitte, antwortet. Wir haben es mit Männern zu tun, die vor einem Mord nicht zurückschrecken. Seid Ihr bei ihm gewesen? Habt Ihr ihm oder einem anderen etwas gesagt?«
    »Nein«, antwortete ich.
    Ich hatte Leonardo nur die halbe Wahrheit gesagt - nämlich, dass ich weder ihn noch Francescos Briefe erwähnt hatte. Vielleicht war es die Halbwahrheit, die sich auf meinem Gesicht und in meiner Haltung ausdrückte, denn Leonardo stellte mir keine weiteren Fragen. Doch selbst er konnte mich trotz seines Charmes nicht überreden, an jenem Tag für ihn Modell zu sitzen. Auch an einem Gespräch über alles, was seit unserer letzten Begegnung geschehen war, zeigte ich kein Interesse. Ich kehrte früh nach Hause zurück.
    Francesco kam spät aus seiner bottega. Er schaute nicht ins Kinderzimmer, um mich und Matteo zu begrüßen; er ging in seine Gemächer und wagte sich erst wieder hervor, als er zum Abendessen gerufen wurde.
    Auch mein Vater erschien erst spät zum Essen, auch er ging nicht wie gewohnt zuerst ins Kinderzimmer. Als ich mich zu ihnen gesellte, saß Francesco mit versteinertem Gesicht, niedergeschlagen und von kalter, machtloser Wut ergriffen am Tisch. Er

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