Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Worten wurde er rot und musste sich wieder fangen. »Woher wisst Ihr, dass er noch lebt? Aus dem Brief etwa?«
»Und von meinem Vater, bevor er starb.«
Unziemlich, mit der Vertrautheit eines Gemahls, eines Bruders, nahm er mich am Ellenbogen. Ich wehrte mich, aber er ließ nicht los. »Dann sagt mir, mit wem habt Ihr darüber gesprochen? Ahnt Francesco, dass Ihr von Giulia-nos Überleben wisst?«
Ich versuchte ihn abzuschütteln, doch er packte noch fester zu. »Nein«, sagte ich. »So dumm bin ich nicht. Warum habt Ihr es mir nicht gesagt? Warum habt Ihr mich die ganze Zeit leiden lassen?«
»Seht Euch bloß an«, sagte er mit einer Schärfe und Kälte, die ich an ihm noch nie erlebt hatte. »Ihr beantwortet Eure Frage gerade selbst. Menschen töten und sterben, weil sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten können. Ihr kanntet mich nicht sehr gut, als wir uns zum ersten Mal in der Santissima Annunziata trafen. Ihr hattet keinen Grund, mir zu vertrauen. Hätte ich Euch gesagt, Giuliano sei am Leben, hättet Ihr ihm auf der Stelle geschrieben. Oder Ihr hättet versucht, nach Rom zu gelangen, um ihn zu suchen. Was ich auch gesagt hätte, ich hätte Euch nicht aufhalten können. Infolgedessen wärt Ihr oder er oder Ihr beide gestorben. Hätte ich ihm jemals gesagt, dass Ihr Gio-condo geheiratet habt, weil Ihr Giuliano für tot hieltet, wäre er ...«
»Er wäre zu mir gekommen, nicht wahr? Demnach habt Ihr auch ihn belogen. Warum sollte ich Euch jetzt auf einmal vertrauen?« Ich verzog das Gesicht; die Tränen, die ich so lange unterdrückt hatte, liefen mir plötzlich ungehindert über die Wangen. »Warum sollte ich ausgerechnet Euch den Inhalt des Briefes mitteilen? Ich warne ihn selbst vor der Gefahr .«
»Mein Gott«, flüsterte er, und sein Gesicht wurde so grau vor Angst, dass ich verstummte. »Lisa - schwört mir, dass Ihr nicht versucht habt, Kontakt mit ihm aufzunehmen!«
»Ich schwöre gar nichts.« Meine Stimme war niederträchtig. »Sie wollen ihn und Piero hierher locken und dann umbringen. Sie wollen alles wiederholen - das Volk gegen die Medici aufwiegeln, wie Messer Iacopo es vorhatte, diesmal aber mit Erfolg. Meint Ihr, ich wäre so ein Kindskopf und würde zulassen, dass Giuliano sich selbst in Gefahr bringt? Ich habe ihm mitgeteilt, er solle nicht kommen. Er solle bleiben.« Ich schüttelte den Arm. »Lasst mich los!«
Er streckte die Hand wieder nach mir aus; ich trat einen Schritt zurück auf die Totengräber zu. »Lisa ... sie werden es entdecken. Sie werden Euch umbringen.«
»Sie werden es nicht herausfinden. Dafür habe ich schon gesorgt.«
In der Ferne rief jemand meinen Namen. Ich drehte mich um und sah Loretta, die auf uns zulief.
»Lisa, bitte .« Noch nie hatte ich eine solche Verzweiflung in seiner Stimme vernommen. »Ihr könnt nicht mit ihr zurückgehen - sie werden Euch eine Falle stellen, versuchen, Euch umzubringen und Euch gegen Giuliano zu benutzen. Was muss ich tun, um Euch zu überzeugen .? Alles, was ich je getan habe, geschah zu Eurer Sicherheit und der Eures Kindes.« Seine Augen glitzerten; zu meiner Überraschung sah ich, dass sie sich mit Tränen füllten.
Eine brillante Vorstellung, sagte ich mir. Loretta war noch zu weit entfernt, um uns zu hören, aber nah genug, dass ich die Panik auf ihrem Gesicht erkannte; er war gezwungen, meinen Arm loszulassen, damit sie keinen Mönch sah, der sich verdächtig verhielt. »Ihr müsst mich schon rasch überzeugen, weil ich jetzt nach Hause gehe.« Damit kehrte ich ihm den Rücken und ging einen Schritt auf Loretta zu.
»Lisa, ich liebe Euch«, sagte er schnell.
Ich warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Nicht so, wie Ihr Giuliano geliebt habt.«
»Noch mehr«, sagte er. »Mehr noch, als ich Eure Mutter geliebt habe.«
Ich zögerte. Blieb stehen. Schaute zu ihm auf.
»Giuliano de' Medici war nicht dein Vater«, sagte er. »Ich bin es.«
»Madonna Lisa!«, rief Loretta. Außer Atem und mit hochrotem Gesicht stand sie am Tor zum Kirchhof. »Mat-teo ist krank! Er ist krank, sie glauben, es ist la moria!
Claudio ist hier und wartet, um Euch nach Hause zu fahren!«
»Matteo ist krank«, sagte ich zu ihm. Er machte den Mund auf und streckte erneut die Hand nach mir aus, doch noch ehe er mich berühren konnte, noch ehe er sprechen konnte, hob ich meine Röcke und lief zu Loretta.
Ich stürmte durch den Haupteingang in unseren Palazzo und wäre die Treppe hinaufgelaufen, wenn mein Gemahl mich nicht aus dem
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