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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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fliehende Stirn. Seine Nase sah aus, als hätte jemand ein großes, eckiges Stück Fleisch in Form einer Axt genommen und mitten in sein Gesicht gedrückt; der Nasenrücken sprang im rechten Winkel unter seiner Stirn hervor und fiel dann abrupt senkrecht ab. Seine unteren Schneidezähne waren krumm und standen vor, sodass sich die ganze Unterlippe nach außen schob.
    Kein Messias war unansehnlicher. Doch der schüchterne
    Mann, den ich in der Prozession gesehen hatte, und derjenige, der auf die Kanzel stieg, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Dieser neue Savonarola, dieser angepriesene papa angelico, war auf wundersame Weise gewachsen; seine Augen strahlten Selbstsicherheit aus, und seine knochigen Hände packten die Seiten der Kanzel mit göttlicher Autorität. Dieser Mann war von einer Macht verwandelt worden, die größer war als er selbst, von einer Macht, die sein zerbrechlicher Körper ausstrahlte und welche die Luft ringsum durchdrang. Zum ersten Mal, seitdem ich die Kirche betreten hatte, vergaß ich die Kälte. Selbst meine Mutter, die sich unterwürfig und geschlagen gegeben und während des Rituals geschwiegen hatte, stieß einen Laut des Erstaunens aus.
    Der Graf auf der anderen Seite meines Vaters faltete in Demut die Hände. »Fra Girolamo«, rief er, »gib uns deinen Segen, und wir werden geheilt sein!« Ich warf einen Blick auf sein nach oben gerichtetes Gesicht, das vor Hingabe strahlte, auf die Tränen, die ihm plötzlich in die Augen traten. Auf Anhieb wurde mir klar, warum Zalumma Savonarola und seine Anhänger einmal als piagnoni, »Jammerlappen«, verhöhnt hatte.
    Die innere Erregung ringsum war jedoch grenzenlos, wild, echt. Männer und Frauen streckten flehend die Arme aus, die Handflächen nach oben.
    Und Fra Girolamo reagierte. Er ließ den Blick über uns schweifen und schien jeden Einzelnen von uns zu sehen und die Liebe anzunehmen, die man ihm entgegenbrachte. Er schlug das Kreuzzeichen über der Menge, wobei seine Hände vor unterdrückter Erregung zitterten. Unterdessen erhoben sich zufriedene Seufzer gen Himmel, und schließlich war es im Heiligtum wieder still.
    Savonarola schloss die Augen, sammelte eine innere Kraft und ergriff dann das Wort.
    »Unsere Predigt stammt heute aus dem Buch Jeremias, zwanzigstes Kapitel.« Seine laute Stimme, die von der gewölbten Decke widerhallte, war erstaunlich hoch und nasal.
    Sorgenvoll schüttelte er den Kopf und senkte das Haupt, als würde er sich schämen. »Ich bin zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich ... denn des Herrn Wort ist mir zum Hohn und Spott geworden . « Er hob das Gesicht gen Himmel, als schaute er direkt in das Antlitz Gottes. »Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht leiden konnte ...«
    Nun schaute er auf uns. »Volk von Florenz! Obwohl andere mich verspotten, kann ich das Wort des Herrn nicht länger zurückhalten. Er hat zu mir gesprochen, und es brennt in mir so hell, dass ich reden muss, wenn ich nicht vom Feuer verzehrt werden will.
    Hört das Wort Gottes: Bedenkt wohl, o ihr Wohlhabenden, denn Not und Elend werden euch heimsuchen! Diese Stadt soll nicht mehr Florenz heißen, sondern Höhle von Dieben, Unmoral, Blutvergießen. Dann werdet ihr alle arm sein, alle elendig ... Beispiellose Zeiten stehen bevor.«
    Während er redete, wurde seine Stimme tiefer und kräftiger. Die Luft vibrierte unter seinen dröhnenden Anklagen; sie zitterte unter einer Gegenwart, die ebenso gut Gottes Gegenwart hätte sein können.
    »O ihr Wüstlinge, ihr Sodomiten, ihr, die ihr den Unrat liebt! Eure Kinder werden grausam behandelt, auf die Straßen gezerrt und zerstückelt werden. Ihr Blut wird den Arno füllen, dennoch wird Gott ihrem armseligen Geschrei kein Gehör schenken!«
    Ich schrak zusammen, als eine Frau dicht hinter uns einen gequälten Schrei ausstieß; die Wände der Kirche hallten von abgehacktem Schluchzen wider. Von Reue übermannt, verbarg mein Vater das Gesicht in den Händen und weinte, Seite an Seite mit Graf Pico.
    Meine Mutter aber erstarrte; beschützend ergriff sie meinen Arm, blinzelte wütend und reckte ihr Kinn trotzig Fra Girolamo entgegen. »Wie kann er es nur wagen!«, sagte sie, den Blick fest auf den Mönch gerichtet, der eine Pause eingelegt hatte, um seine Worte auf uns wirken zu lassen. Meine Muter hatte die Stimme erhoben und war über der jammernden Menge gut zu hören. »Gott erhört die Schreie unschuldiger

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