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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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wichtiger, Herz, Kreislauf, Blut und Atmung zu überwachen. Die Geräte zeigen an, wann es kritisch wird, damit man bei Lebensgefahr künstlich beatmet werden kann. Die Schwester sagte mir, dass ein Psychiater auf mich zukommen würde, danach verschwand sie.
    Jetzt war ich wach, und schon war das ganze Elend wieder da. Unentwegt weinte ich, und im Kopf legte ich mir immer wieder neu zurecht, was ich dem Arzt sagen wollte. Vielleicht würde er mich auf der geschlossenen Station unterbringen. Denn dahin kommt man, wenn man eine Gefahr für sich selbst oder für andere ist. Lebensmüde wie ich war, ahnte ich, dass mir das jetzt bevorstand. Sosehr ich mich vor der Geschlossenen fürchtete, meine Angst, dass sie mich entlassen würden, war größer. Denn ich war nach wie vor außer mir. Doch ich hatte Panik, dass ich nicht würde vermitteln können, wie es mir ging. Nach zwei Stunden, die sich ewig lang anfühlten, kam der Psychiater vom Dienst. Er war klein und drahtig, nicht älter als fünfunddreißig, und seine blonden, sorgfältig gestutzten Koteletten reichten ihm bis zum Kinn. Unter dem weißen Kittel sah man Jeans. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an mein Bett.
    Â»Frau Fuhljahn, guten Abend«, sagte er. »Was Sie da gemacht haben, war sehr gefährlich. Wie geht es Ihnen inzwischen?«
    Ich holte tief Luft und versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten.
    Â»Das Schlimme ist, dass man nicht sehen kann, worunter ich leide«, erklärte ich in meiner Verzweiflung. »Hätte ich einen schweren Verkehrsunfall gehabt, würde ich am ganzen Körper bluten. Jeder wüsste, ich habe Schmerzen. So kann ich Ihnen nur sagen: Mir geht es sehr schlecht. Wirklich.«
    Der Psychiater blickte mich mitfühlend an und meinte: »Das bekomme ich schon mit. Sie weinen und wirken völlig aufgelöst. Haben Sie immer noch Suizidgedanken?«
    Â»Ja. Ich habe es heute auch meiner Freundin gesagt, und der erschien die Situation bedrohlich.«
    Â»Ist sie denn lebensbedrohlich?«, fragte er. »Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn am schlimmsten ist, wo befinden Sie sich da?«
    Diese Antwort zu geben war leicht. »Zehn.« Er sah mich ernst an. »Wären Sie bereit, auf die geschlossene Station zu gehen? Das erscheint mir angebracht.«
    Ich überlegte einen Moment und entgegnete dann: »Ja. Nicht gern, aber ja.«
    Er nahm mich gleich mit, wir gingen von der Notaufnahme hinüber in die Psychiatrie, die zu meinem Erstaunen in einer schönen alten Villa untergebracht war. Während wir über das Gelände der Klinik liefen – ich hatte einen Armeerucksack dabei, mit den nötigsten Sachen –, dachte ich, dass ich gleich ohnmächtig umfallen würde, weil ich mich so kraftlos fühlte. Um meine Kulturtasche, einen Schlafanzug und Hausschuhe einzupacken, hatte ich gestern eine geschlagene Stunde gebraucht. Immer wieder setzte ich mich auf mein Bett, heulte und hatte das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können. Etwas zum Vergnügen, zur Zerstreuung hatte ich schon seit Tagen nicht mehr tun können. Weder lesen noch Musik hören, nicht spazieren gehen. Ich konnte mich auch nicht mehr mit jemandem normal unterhalten. Ich befand mich in einem maximalen Ausnahmezustand. Wie jemand, dem man gesagt hat, dass ein geliebter Mensch gestorben ist, wie ein Fahrer, nachdem er eine Massenkarambolage verursacht hat. In meinem Kopf war nur noch Alarm. Es fühlte sich an wie Sterben, ich lag nach dem Packen, bis der Krankenwagen kam, auf dem Bett, total verkrampft, und hielt mich an meinem Teddy fest. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Mein Körper fühlte sich an, als würde von allen Seiten Druck auf ihn ausgeübt werden. Nachdem ich meine Freundin angerufen und meine Sachen zusammengesucht hatte, konnte ich nichts mehr.
    In der Psychiatrie angekommen, begleitete mich der Arzt mit den blonden Koteletten durch einen langen weißen Flur, dann schloss er eine massive Stahltür auf – und hinter uns wieder zu. Jetzt war ich vom ganz normalen Leben getrennt. Vor mir lag ein verwinkelter Flur mit vielen Türen. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Freiheit auf- und mich freiwillig in Gefangenschaft begeben. Von der ersten Sekunde an war es eine einschneidende Erfahrung, nicht mehr einfach dahin gehen zu können, wohin man will. Psychiatriemitarbeiter, so lernte ich später,

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