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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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Wochen hier«, erzählte sie ungefragt. »Hab ’ne Überdosis gespritzt. Seit mein Vater sich umgebracht hat und ich aus der Wohnung flog, bin ich obdachlos. Ich penne am Hauptbahnhof. Dorthin gehe ich auch zurück, wenn ich hier rauskomme.«
    Â»Aha«, sagte ich lahm.
    Denn wie immer, wenn ich mit solchen Informationen überflutet wurde, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Eine Stimme in mir schrie: »Lass mich in Ruhe, ich kann das nicht ertragen.« Eine andere: »O Gott, das tut mir so leid, du Arme. Wie kann ich dir helfen?«
    Mein Notausgang waren dann die alltäglichen Banalitäten.
    Â»Kannst du mir sagen, wo das Klo ist?«, fragte ich.
    Â»Ja, klar, in dem anderen Gang. Du musst es dir aber vom Personal aufschließen lassen.«
    Â»Das ist egal, Hauptsache, ich finde das Klo.« Es war mir wirklich egal. Ich wollte nur noch diese Patientin loswerden und meine Ruhe haben. Normalerweise zeigen einem die Mitarbeiter am Anfang die Station, die einzelnen Räume, an dem Abend war dafür wohl keine Zeit gewesen. Wie ich heute weiß, gehen solche Sachen auf einer geschlossenen Station oft in der Hektik unter.
    Am nächsten Morgen – ich hatte unruhig geschlafen, weil die ganze Nacht in den Gängen das Licht brannte – saß ich mit den anderen beim Frühstück. Ein eckiger Raum mit mehreren runden Tischen, alles war grau und beigefarben, wirkte alt und abgenutzt. Die Frau mir gegenüber hatte gelbe, verhornte Fingernägel. An der Spitze des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand war die Haut orangefarben vom Rauchen. Ihr standen die Haare vom Kopf ab wie ein Geweih, und als sie sprach, sah ich ihre schlecht überkronten Zähne. Ich ekelte mich und spielte mit dem Gedanken, nicht mehr hierbleiben zu wollen.
    Nach dem Frühstück suchte ich das Dienstzimmer auf. Eine Krankenschwester ging einige Pläne durch, sie sah beeindruckend gut aus mit ihren langen, hellblonden Haaren. Mir wurde bewusst, dass ich seit Tagen nicht geduscht hatte. Außerdem war ich noch im Schlafanzug und auf Socken. Ich versuchte ein Lächeln und sagte: »Guten Morgen, ich würde gern meine Tabletten einnehmen. Mein Name ist Heide Fuhljahn, ich bin gestern Abend gekommen.«
    Â»Willkommen auf der Station«, antwortete sie. Wenigstens war sie nicht nur hübsch, sondern auch zugewandt. »Sehen wir mal nach, ob es so stimmt, wie es hier liegt«, fuhr sie fort. »Sie erhalten Fluctin, Seroquel, Zolpidem und Oxazepam?«
    Â»Ja, genau«, entgegnete ich und blickte auf das kleine eingeschweißte Päckchen mit den Medikamenten in ihrer Hand. »Ist das eine 200-Milligramm-Seroquel?«
    Sie schaute auf das Tütchen. »Lassen Sie mich mal sehen, die gelbe? Nein, das ist nur eine Hunderter. Warten Sie, ich gebe Ihnen eine zweite, damit Sie die verordneten zweihundert Milligramm einnehmen können.«
    Ich nahm die Tabletten entgegen und drehte mich um. »Halt, halt«, sagte die Schwester. »Sie müssen die Medikamente hier einnehmen.«
    Â»Wieso das denn?«, fragte ich pampiger, als ich wollte.
    Â»Damit Sie keine tödliche Dosis horten können.«
    Genervt holte ich mir aus dem Essensraum eine Plastikflasche Mineralwasser, ging zurück zum Dienstzimmer und schluckte die Pillen unter den Augen der Stationsmitarbeiterin. Damals störte es mich sehr, nicht selbst über meine Tabletten entscheiden zu können. Heute, mit etwas Abstand, finde ich es richtig, dass das Personal da ein Auge drauf hat.
    Als ich das Zimmer verließ, war es acht, und ich hatte noch vier Stunden bis zum Mittagessen. Und nichts zu tun. Panik stieg in mir auf. Deshalb begab ich mich in den Aufenthaltsraum zu den anderen. Vielleicht würde mich das ablenken. Ein großer, dicker Mann im Holzfällerhemd stand summend vor einem kleinen Regal und betrachtete die wenigen Bücher darin. Eine Blondine, Mitte vierzig, schlank und durchtrainiert, saß auf einem olivfarbenen Sofa und blätterte in einer völlig zerlesenen Ausgabe der Zeitschrift Alles für die Frau . Neben ihr hockte eine vermutlich Neunzigjährige, deren Gesicht an einen verschrumpelten Apfel erinnerte. Sie sagte immer wieder: »Aber der Guttenberg war doch so ein Netter! Oder? Der war doch so sympathisch.« Keiner antwortete ihr. Zwei weitere hutzelige Frauen saßen stumm auf der zweiten Couch und starrten ins Nichts. Ich setzte mich auf einen

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