Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
richtige Angst bekommen. Es war, als hätten wir mit Streichhölzern gezündelt und fast einen Flächenbrand verursacht. Heide ist direkt danach wieder in die Klinik gefahren, und ich war sehr froh darüber, die Verantwortung für sie abgeben zu können.
Die nächsten Jahre sind in meiner Erinnerung verwischt. Heide ist in dieser Zeit zu einer »Drehtürpatientin« geworden (den Begriff habe ich von ihr gelernt). Immer wieder gab es Phasen, in denen es ihr besser ging â und dann Auslöser, die einen neuen Absturz provoziert haben. Heute weià ich, dass Heide niemals geheilt werden kann, das war mir nach dem ersten Zusammenbruch noch nicht klar. Dafür sind die Wunden der Kindheit einfach zu tief. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass sie ein zufriedenes, glückliches Leben haben kann. Die Hoffnung ist kleiner geworden, jeder Rückfall ist ein Dämpfer. Aber sie ist noch da.
Ich glaube an Heide, will, dass sie weiterlebt. Will für sie da sein und sie weiter begleiten. Aber ich gebe zu, das ist nicht leicht. Am Anfang, bei ihrem ersten Zusammenbruch, war ich verzweifelt, weil man als AuÃenstehender so wenig aktiv helfen kann. Man kann trösten, gut zureden, mit ihr einen schönen Tag verbringen, aber man kann ihr nicht den Schmerz abnehmen. Heide hat damals gesagt: »Du hilfst mir schon sehr, wenn du meine Krankheit mit mir aushältst.« Heute weià ich, was sie meinte.
Ich halte mit ihr aus, denn ich bin in der sehr positiven Situation, es auch zu können. Weil ich die nötige Distanz zu ihr habe. Räumlich â und damit auch emotional. Heide kann sehr maÃlos sein. Viel fordern. Sie sucht Nähe. So zwingend, dass sie die Menschen, die sie am meisten liebt, von sich wegtreibt.
Heide hat mir einmal eine ihrer gröÃten Sehnsüchte mit einem sehr einprägenden Bild beschrieben: Oft fühlt sie sich wie ein Baby, das in einem Tragetuch ganz eng am Bauch der Mutter mitgenommen werden möchte. Ihre Sehnsucht nach Mutterliebe, Mutterwärme ist unendlich groÃ, fast unstillbar. Diese Liebe sucht sie überall â und muss damit scheitern. Niemand kann sie ihr geben. Aber ich habe das Glück, dass sie es bei mir nicht einfordert. Und ich glaube, deshalb funktioniert unsere Freundschaft auch so gut.
Natürlich habe ich Schuldgefühle. 2011 hatte sie wieder einen heftigen Zusammenbruch, da hat sie eine Ãberdosis Schlaftabletten genommen. Als ich davon erfuhr, war mein erster Impuls: Ich fahre hin. Ich kann Heide in solch einer Situation nicht alleinlassen. Sie braucht jetzt jede Form von Unterstützung von ihren Freundinnen. Von denen, die noch können, weil ein Teil im Lauf der Jahre einfach die Kraft verloren hat.
Es wäre nicht leicht gewesen zu fahren. Ich habe ein kleines Kind, renoviere gerade ein Haus, gehe arbeiten, weià im Moment oft selbst nicht, wo mir der Kopf steht. Aber Heide wäre es wert gewesen. Warum ich dennoch nicht gefahren bin? Weil ich Angst hatte. Angst davor, ihre Abgründe nicht aushalten zu können. Hilflos vor ihr zu stehen, wenn sie schreit und weint. Sie nicht beruhigen zu können. Vielleicht mit ansehen zu müssen, wie sie sich vor meinen Augen etwas antut. Angst vor einer Verantwortung, die ich nicht tragen kann. Angst davor, dass mich der Strudel ihrer negativen Gefühle selbst mit in den Abgrund reiÃt.
So wie bei einer anderen gemeinsamen Freundin, die nach Heides zweitem Zusammenbruch nachts mit schrecklichem Herzrasen aufwachte. Eine Panikattacke, die mehrere Stunden lang anhielt. Diese Freundin deutete sie als Warnsignal ihres Körpers. Als inneres Stoppzeichen, das sagt: »Bis hierhin und nicht weiter.« Und hat sich daraufhin ganz bewusst zurückgezogen. Ich verstehe sie gut. Heide hat ihr oft von ihren Verstümmelungsfantasien erzählt, hat sie dann hysterisch schreiend angerufen und angefleht, sie in die Notaufnahme zu fahren. Hat eine Nähe bei ihr gesucht, die eine Freundschaft bei Weitem übersteigt. Auch ich könnte das nicht leisten. Will es nicht leisten, weil es mich selbst kaputtmachen würde.
So versuche ich, trotz fünfhundert Kilometern Distanz, an ihrer Seite zu bleiben. Simse, schreibe E-Mails und telefoniere mit ihr. Will ihr zeigen, wie oft ich an sie denke. Wie wichtig sie mir ist. Wie gern ich sie habe. Wie leid es mir tut, dass sie so viel aushalten muss. Wie gut ich sie in vielem verstehen kann. Wie sehr ich mir
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