Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
schiefergrauen Kunststoffstuhl und sah aus dem Fenster. Wenigstens war es nicht vergittert. Aber wie ich später erfuhr, lieà es sich, wie alle Fenster, nicht öffnen, sondern nur kippen. Niemand beachtete mich. Einerseits war ich froh, nicht wieder eine Horrorgeschichte zu hören, andererseits war es auch nicht schön, ignoriert zu werden. Die Patienten von selbst anzusprechen, traute ich mich nicht, ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen.
Nach einer Weile ging ich deshalb aus dem Aufenthaltsraum wieder in den Flur und legte mich hinter den Raumteiler auf mein Bett. Noch drei Stunden bis zum Mittagessen. Plötzlich klopfte jemand an den Paravent, es war die hübsche Krankenschwester.
»Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen«, sagte sie. »Was machen die Suizidgedanken?«
»Sind da, aber nicht akut«, erwiderte ich. »Ich weià nur einfach nichts mit mir anzufangen.«
Sie nickte mitfühlend und meinte: »Ja, das kommt vor. Vielleicht schlafen Sie ein bisschen? Sollten die Gedanken drängender werden, melden Sie sich bei uns.«
»Ja, mache ich.«
Sie ging, und ich war wieder allein. Schrecklich, diese freie Zeit. Noch schlimmer, als eingesperrt zu sein. Genau wie zu Hause hatte ich auch hier keine Konzentration für irgendetwas und musste den Tag aber trotzdem herumkriegen. Also stand ich wieder auf und suchte im Flur nach dem Schwarzen Brett, an dem sicher das Programm für die Woche hängen würde. Dort bestätigte sich, was ich schon geahnt hatte: Es gab hier keine Psychotherapie, nur ab und an ein paar Beschäftigungsangebote wie eine Genussgruppe. Frustrierend.
Ich ging zurück zu meinem Bett und legte mich hin. Die verbleibenden Stunden bis zum Mittagessen kamen mir ewig vor. Ruhe fand ich nicht, denn die letzte Sitzung bei Dr. Weston ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte mir gesagt, dass er Ende des nächsten Jahres wahrscheinlich in Rente gehen würde. Als ob das nicht schlimm genug gewesen wäre, sagte er zudem völlig kühl: »Wir können uns auch gern früher trennen, wenn Sie sich schon einen neuen Therapeuten suchen wollen.« Sein Wort gern hatte mir in der Seele wehgetan, als würde man mir mit einer Rasierklinge die Brust aufschneiden. Abgeschoben fühlte ich mich, abgelehnt, vor die Tür gesetzt. Auch jetzt dachte ich daran, dass er es offenbar nicht erwarten konnte, mich loszuwerden. Kaum eine Viertelstunde lag ich im Bett, und doch hielt ich den Schmerz nicht mehr aus.
Erneut ging ich zum Dienstzimmer und bat um mehr Tabletten. Dafür hatte ich gestern, im Aufnahmegespräch mit dem Psychiater vom Dienst, den sogenannten Bedarf vereinbart. Das sind die Medikamente, die nicht fest angeordnet sind, sondern die man bei Bedarf, also im Notfall, zusätzlich nehmen kann. Das ist auf offenen Stationen nicht anders, daher kannte ich das Prozedere. Bisher habe ich es noch nie erlebt, dass ein Patient mit Medikamenten vollgestopft wurde. Aktuell ist die Rechtslage in Deutschland sogar so, dass die Patienten oder ihr rechtlicher Vertreter vorher zwingend einwilligen müssen, wenn die Ãrzte Psychopharmaka geben wollen â eine (späte) Reaktion auf die Zustände im Dritten Reich. Da mir Tabletten bislang meistens geholfen haben, hatte ich immer nach ihnen gefragt.
In jeder Psychiatrie, in der ich bisher war, gingen die Ãrzte trotzdem sehr sparsam mit Medikamenten um und wollten mir jedes Mal so wenig wie möglich geben. Daher wusste ich: Um den Bedarf musste ich im Aufnahmegespräch genauso handeln wie um die feste Medikation. Auch gestern Abend war es so gewesen.
»Ich würde gern als Bedarf dreiÃig Milligramm Oxazepam vereinbaren, dreimal zehn«, hatte ich gesagt.
Der Psychiater mit den blonden Haaren und den blonden Koteletten hatte ein skeptisches Gesicht gemacht und erwidert: »Sie sind eine erfahrene Patientin, Sie kennen das Risiko einer Abhängigkeit. Sie nehmen schon sechzig Milligramm fest, das ist sehr viel. Dann noch dreiÃig im Bedarf, das sprengt die Höchstmengen. Für ein paar Tage können wir das auf diese Weise handhaben, aber Sie müssen das Benzodiazepin dann auch wieder reduzieren.«
Seine Worte hatten Angst in mir ausgelöst. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich manchmal für mehrere Wochen hoch dosiert Beruhigungsmittel brauchte â auch wenn ich »nur« auf einer offenen Station war. Und der Arzt hier wollte mir die
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