Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
sprechen allerdings lieber vom geschützten Bereich, und tatsächlich sind solche Stationen auch ein Schutz.
Wie angewurzelt blieb ich hinter der Stahltür stehen. Offene Stationen kannte ich ja inzwischen und wusste, dass die nichts mit dem zu tun hatten, was es an Klischees über sie gab. Aber eine geschlossene Abteilung? Kontrollierte überhaupt jemand, was da passierte? Gab man nicht alle seine Rechte auf? Würde mich jemand in eine Gummizelle einsperren? In eine Zwangsjacke stecken? Mir fiel der Film Einer flog über das Kuckucksnest ein. Jack Nicholson und die unmenschliche Krankenschwester. Am liebsten wäre ich wieder umgedreht. Als hätte der Mediziner es geahnt, wendete er sich mir zu und sagte freundlich: »Kommen Sie, ich bringe Sie ins Dienstzimmer.«
Das lag in der Mitte der Station und erinnerte an ein groÃes Aquarium: Es war sechseckig und rundum verglast. Drei Flure gingen davon ab. Obwohl die Decken sehr hoch waren, wirkte es trotzdem eng und beklemmend. Ein Krankenpfleger, der aussah wie Apple-Gründer Steve Jobs, nahm mich in Empfang. Er sagte: »Zu Ihrem eigenen Schutz und zu dem der anderen Patienten muss ich Ihre Taschen durchsuchen und Ihnen alles abnehmen, was Sie oder andere gefährden könnte. Wenn Sie entlassen werden, bekommen Sie die Sachen wieder.« Diese MaÃnahme schien einleuchtend, aber ich kam mir trotzdem vor wie eine Verbrecherin. Der Pfleger tastete alle Jacken- und Hosentaschen ab und kontrollierte anschlieÃend meinen grünen Armeerucksack, der neben meinen FüÃen stand. Er fand erst einmal nichts, was er als bedrohlich einstufte. Dann sagte er: »Haben Sie Medikamente dabei? Die müssen Sie abgeben.«
Ich nahm meine Beruhigungsmittel aus einer kleinen Seitentasche und gab sie ihm: »Hier, bitte.«
Der Krankenpfleger wühlte bereits in meinem Kulturbeutel. »Nagelschere, Nagelfeile, Rasierer«, murmelte er, als er die drei Gegenstände in die Hand nahm. Ich wollte den Travel Kit schon wieder in den Rucksack stopfen, da meinte er: »Zeigen Sie mal Ihr Deo. Ist das Glas? Das müssen Sie auch hierlassen. Sie können es morgens unter Aufsicht im Dienstzimmer benutzen.«
Er steckte den Deoroller ein. Erst dachte ich: Wow, die nehmen es aber genau. Später stellte sich heraus, dass auf der Station Messer und Gabeln offen herumlagen und man Streichhölzer und Feuerzeuge behalten durfte, um sich eine Zigarette anzünden zu können. Das Badezimmer konnte man auch abschlieÃen. Wer sich also wirklich verletzen oder gar töten wollte, konnte das relativ leicht in die Tat umsetzen. Es war nur eine Frage der Gewalt, die man bereit war sich anzutun. Und eine Frage des Timings. Sicher war die Zeitspanne, in der man Hand an sich legen konnte, relativ kurz, weil man alle paar Stunden zum Essen erscheinen musste â aber es würde gehen. Und tatsächlich kommt es vor, dass sich Menschen in der Psychiatrie das Leben nehmen. Den hundertprozentigen Schutz gibt es auch dort nicht. Vom Verstand her betrachtet war das einleuchtend, vom Gefühl her machte es mir Angst.
Der Arzt überlieà mich nun dem Krankenpfleger, der mich links um die Ecke führte, in einen weiteren Flur. Dort stand ein Stahlbett mit weiÃem Bettzeug hinter einem kittfarbenen Paravent. Er sagte bedauernd: »Es tut mir leid, Sie müssen im Gang schlafen, die Station ist vollkommen überfüllt.«
»Das ist mir völlig gleichgültig«, antwortete ich ehrlich. Wäre es mir zu dem Zeitpunkt besser gegangen, hätte es mich sicher vehement gestört, so ohne jede Privatsphäre zu sein. In diesem Moment aber dachte ich: Hauptsache, ich darf mich irgendwo hinlegen. Der Pfleger erklärte mir noch, dass die Mitarbeiter in der Nacht alle zwei Stunden herumgehen und die Patienten kontrollieren würden, dann verschwand er. Ich empfand das als tröstlich, war froh, dass jemand auf mich aufpasste. Während ich meinen Pyjama auspackte, kam die erste Patientin auf mich zu. Sie war höchstens achtzehn, dünn, ganz in Schwarz gekleidet und trug ihre grell türkis gefärbten Haare auf der einen Seite kurz, auf der anderen kinnlang. Die Neugierde war ihr an der Nasenspitze abzulesen.
Sie sagte: »Hallo, ich bin Stefanie. Bist du neu?«
Ich versuchte, ein Gesicht zu machen, das nicht zum Plaudern einlud.
»Ja, ich bin Heide«, antwortete ich schlieÃlich. »Hallo.«
»Ich bin schon drei
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