Kalt ist der Abendhauch
Tiere besänftigen zu können.
Während wir - die Studenten und ich - beim Kaffee sitzen, erzähle ich von Mufti, weil mir ihr Wohngemeinschaftsköter beharrlich die Beine abschleckt. Über diesen Umweg komme ich auf Albert zu sprechen. Wahrscheinlich geraten meine Worte allzu bewegt, vielleicht sogar theatralisch, jedenfalls sind alle still und hören zu.
»Der war nicht schwul, Oma«, sagt Felix, »ein eindeutiger Fall von Transsexualität.«
Ich nicke. Im Fernsehen haben Männer und Frauen davon berichtet, daß sie durch einen Irrtum der Natur im falschen Geschlecht leben müssen. Heutzutage versucht man, ihnen zu helfen. Aber mein armer Bruder Albert hat niemals gewußt, daß er Leidensgenossen hatte. »Mein Bruder hat sich umgebracht«, sage ich, »weil niemand ihn verstanden hat, weil er sich keinem offenbaren konnte und auch ich versagt habe, obgleich ich seine Vertraute war.«
Felix und seine Freunde schweigen einen Moment lang. Dann
wollen sie wissen, auf welche Weise Albert sich das Leben
genommen hat.
»Er hat sich erschossen. Hier in Darmstadt, auf dem
elterlichen Dachboden habe ich ihn gefunden«, sage ich, »und zwar in Mädchenkleidern. Es war, als ob er der ganzen Familie im Tod sein Geheimnis offenbaren wollte.«
Wie alt er damals war, fragen sie mich. »Albert war
einundzwanzig, ich zweiundzwanzig. Wir waren an jenem Sonntag ausnahmsweise in der Kirche gewesen, außer Papa natürlich und Albert. Als es Mittagessen gab, sollte ich die Familie zusammentrommeln, aber Albert war nicht zu finden. Ich vermutete, daß er wieder einmal Theater spielte, und suchte ihn auf dem Speicher.
Wahrscheinlich erlitt ich einen Schock; schreiend rannte ich hinunter, um die Familie zu alarmieren. Unser Vater war seit Jahren nicht mehr auf den Speicher hinaufgestiegen, damals nahm er Hugo und Ernst Ludwig mit nach oben, alle Frauen mußten unten bleiben. Meine Mutter stand in der Küche - die Köchin hatte frei -, klapperte mit dem Geschirr und begriff nicht, warum es im Nebenzimmer so einen Tumult gab.«
»Das wußte ich alles nicht«, sagt Felix.
Ich erzähle weiter: »Später lag der tote Albert auf seinem Bett und trug wieder eigene Kleider. Wahrscheinlich haben ihn Hugo und Ernst Ludwig umgezogen. Mein Vater nahm mir das Versprechen ab, keiner Menschenseele von Alberts Kostümierung zu erzählen. >Aber er spielte doch nur Theater< sagte ich schluchzend.«
»Und Ihre Mutter?« fragt Susi, die Freundin von Felix.
»Unsere Mutter hat die näheren Umstände nie erfahren. Ein Unglücksfall, wurde ihr gesagt, ihr Sohn habe beim Waffenreinigen unvorsichtig hantiert. Natürlich war diese Lüge allzu durchsichtig, denn Albert haßte Waffen und wäre nie darauf verfallen, eine zu reinigen. Übrigens gehörte die Pistole unserem ältesten Bruder.«
Betreten, aber auch sensationslüstern, blicken sie mich an.
»Alberts Tod blieb ein Tabu in der Familie. Aber seit langem habe ich den Wunsch, ihm einen würdigen Platz in der Familiengeschichte zu verschaffen, damit er nicht verachtet und vergessen wird. Mein Schwager Hugo ist außer mir und Alice der einzige Überlebende, der Albert noch gekannt hat. Er half, ihn vom Dachboden herunterzutragen, ihn umzuziehen und aufzubahren. Selbstverständlich wurde auch er von unserem Vater zu Stillschweigen verurteilt. Aber ich denke, Hugo weiß Dinge, die ich nie erfahren habe - vielleicht hatte Albert beispielsweise einen Abschiedsbrief bei sich. Und warum hat unser Vater den Schuß nicht gehört? Wenn Hugo kommt, werde ich ihn ausquetschen wie eine Zitrone. Wer weiß, wie lange wir beide noch am Leben sind. Wenigstens meine Enkel sollen über ihren toten Großonkel die Wahrheit wissen.«
Schließlich sitze ich - ziemlich erregt über meine eigenen Worte
- wieder allein in der vollgestellten Küche, und meine Studenten streichen das Wohnzimmer. Ein Mädchen, das wohl eine
Studienfreundin von Susi ist, erscheint und schwingt sich auf den Kühlschrank. »Ein ehemaliger Klassenkamerad von mir...«, beginnt sie. Ich lächele sie ermunternd an. »... wußte lange nicht, ob er Mann, Frau, schwul oder Transvestit ist. So ähnlich erging es wohl auch Albert.«
Ich schüttele den Kopf.
Sie fährt fort: »Nach verschiedenen Operationen hat er - oder vielmehr sie - den Job verloren. So ist es immer noch. Das kleinste Übel ist, daß man sie belächelt. Aber immerhin - es gibt jetzt Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen.«
Auf einmal möchte ich nichts mehr über Albert sagen,
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