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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Sinn.
    Zwei Tage nach Alberts Tod wurde Hitler Reichskanzler. Ich nahm es nur am Rande wahr, ich trauerte um meinen Bruder.
    Ich habe viel erzählt, diesmal ist Max, der Elektrostudent, mein Zuhörer. Er stellt keine Fragen nach Transsexualität, nach dem Dritten Reich oder nach Hugo. Seine Interessen liegen auf anderem Gebiet. »Seit wann gibt es Schreibmaschinen?«
    So genau weiß ich es nicht, aber sicher seit über hundert Jahren.
    Und Steno?
    Auch schon sehr lange, aber die Einheitskurzschrift, die ich lernen mußte, erst seit 1924.
    War es damals schon selbstverständlich, daß Frauen einen Beruf erlernten?
    Ich muß verneinen, viele haben früh geheiratet, aber traditionelle Frauenberufe wie Krankenschwester, Putzmacherin, Lehrerin - insbesondere für Hauswirtschaft und Handarbeit - waren beliebt.
    War es also etwas Besonderes, daß ich eine Bürotätigkeit anstrebte?
    Eigentlich nicht, seit Anfang des Jahrhunderts drangen Frauen allmählich in alle Berufe vor, auch in akademische. Ich beneidete eine Freundin, die Innenarchitektin wurde, eine andere, die auf der Duncan-Schule für Freie Tanzkunst barfuß im griechischen Chiton »Schönbewegung und Körperbildung« übte.
    »Man könnte Ihnen stundenlang zuhören«, sagt Max, »aber dafür bezahlen Sie mich ja nicht. Sicher ist es Ihnen recht, daß ich neue Steckdosen, Schalter und Kabel gekauft habe, damit wir keine halben Sachen machen.«
    Mein Mißtrauen ist sofort erwacht. Was ist mit dem Keller?
    Er beruhigt mich. Das Wohnzimmer werde heute fertig, er habe bis jetzt nur dort neue Leitungen verlegt, unter Putz, wie sich das gehöre.
    »Über den Kabelsalat hätten Sie viel zu leicht stolpern können«, meint er.
    Nun ja, es gab nur eine einzige Steckdose im Wohnzimmer. Mit diversen Doppelsteckern und Verlängerungsschnüren wurden von da aus Fernseher, Radio, zwei Lampen und gegebenenfalls Staubsauger, Bügeleisen und Plattenspieler mit Strom versorgt. »Lohnt sich der ganze Aufwand?« frage ich. »Vielleicht bin ich nächstes Jahr schon unter der Erde.«
    Max lacht. Da sollte ich einmal seine Großmutter sehen, die viel jünger als ich sei, aber schon seit Jahren in einem Heim lebe, weil sie allein überhaupt nicht mehr zurechtkäme. Felix sei stolz auf seine rüstige Oma. Das hört man gern.
    Freundlicherweise haben sie mir den Fernseher in der Küche aufgebaut, und ich sehe mir ein Fußballspiel vom Vortag an. Nicht, daß ich irgend etwas davon verstünde oder es mich gar interessierte, aber ohne Antenne bekomme ich in der Küche nur ein einziges Programm. Andererseits muß ich zugeben, daß es hübsche Jungs sind, die da über den Rasen tollen. Früher waren die Hosen schwarz und die Hemden weiß, oder umgekehrt, jetzt sind sie bunt und mit modischen Mustern und phantasievollen Zeichen verziert. Auf dem Hemdrücken steht außer einer Zahl sogar der Name. Ich beschließe, mir ein paar Namen zu merken und damit die jungen Leute in Erstaunen zu versetzen.
    Es kommt mir so vor, als ob Hulda grinst. Immer hinter den Jünglingen her, scheint sie zu denken.
    Jeder weiß, daß viele alte Männer eine Schwäche für junge Mädchen haben; wenn sie nicht dank ihres Geldes an sie rankommen, bleibt es zum Glück meistens beim Anstarren. Falls einer zu grapschen versucht, nennt man ihn einen Lustgreis oder einen »dirty old man«. Die heimlichen Neigungen alter Frauen dagegen sind tabu. Dabei muß ich zugeben, daß es für mich nichts Netteres gibt als einen hübschen Burschen zwischen siebzehn und siebenundzwanzig. Und wenn ich einem jungen Mann mal übers Haar streiche, dann wird man ausschließlich großmütterliche Gefühle voraussetzen.
    Mittags machen meine Werkstudenten eine Pause. Der Backofen wird geleert - von all den großen Töpfen, die ich früher brauchte -, angeheizt und eine Keramikform mit Lammfleisch, Auberginen, Zwiebeln, Paprikavierteln und Tomatensaft hineingestellt. Ein wunderliches Essen, aber es schmeckt ihnen. Ich weiß jetzt, daß die zweite Architekturstudentin Tanja heißt. Sie hat Ketchup für Max, grünen Pfeffer für Felix und provenzalische Kräuter mitgebracht, für jeden sein Lieblingsgewürz. Verwöhnt sind sie allemal: Sie unterhalten sich darüber, ob dieses oder jenes Chinarestaurant bessere Pekingente zubereite, wo man den besten Balsamico-Essig kauft und daß man eine Papaya am besten nur mit frischem Limettensaft beträufelt. Sie trinken Bier, Cola und Weinschorle. Ich erzähle, daß es in meinem Elternhaus und auch später im

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