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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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vor allem, weil Felix nicht im Zimmer ist. Das Versprechen, das ich meinem Vater gab, meldet sich als schlechtes Gewissen. Ich lasse die junge Frau ein wenig über ihr Studium berichten. Architektur war in meiner Jugend kein Frauenberuf. Es studierten zwar Frauen am Bauhaus in Weimar, aber man steckte sie am liebsten in die Weberei, Töpferei oder Buchbinderei.
    Schon wieder erzähle ich, das Alter macht so ichbezogen. Plötzlich sage ich gar nichts mehr, die Studentin redet, und ich schlafe peinlicherweise dabei ein.
    Immer wieder habe ich den gleichen Traum: Albert liegt tot auf schmutzigen Holzdielen vor mir, geronnenes Blut klebt an den Kleidern. Meine Sachen passen ihm schon längst nicht mehr. Auf den ersten Blick erkenne ich, daß er Fannis großen rosa Flanellunterrock trägt, Fannis Bluse, Fannis Strümpfe. Sie war die größte von uns Schwestern und auch die stämmigste. Weder besaß sie Spitzenwäsche noch Seidenkleider, denn bei ihrer Lebensauffassung und ihrer Arbeit im Kindergarten war Luxus überflüssig. Fanni war so ziemlich das Gegenteil von Ida, die nach feinsten Stoffen und eleganter Mode geradezu gierte. Wie mochte Albert darunter gelitten haben, daß ihm ausgerechnet nur noch Fannis Kleider paßten. Aber auch ich bedauerte es, daß er nicht wenigstens in meinem Spitzenhemd gestorben war. Vielleicht hätte ich ihm in seiner einsamen letzten Stunde auf diese Weise ein wenig nahe sein können. Nur ein Spiegel war bei ihm gewesen, und der war zersprungen.
    Erst Jahre später erfuhr ich, warum Albert kurz vor dem Abitur das Internat verlassen mußte: Er war beim Stehlen erwischt worden. Es handelte sich nicht um ein paar Mark aus der Tasche eines Kameraden, sondern um ein Nachthemd der Köchin. Dabei wußte ich, daß Albert Mädchen- und Frauenkleider stets als Leihgabe betrachtete und nach einer ausführlichen Anprobe wieder ordentlich in den Schrank hängte. Wahrscheinlich hatte er das auch im Internat vor, aber er hatte keine Gelegenheit mehr dazu. Als man ihn erwischt hatte, wurden ihm auch andere unaufgeklärte Taten in die Schuhe geschoben. Meinen Vater setzte man in Kenntnis.
    Albert wollte Regisseur werden, und zwar nicht für das Theater, sondern für Kinofilme. Unser Vater ließ ihn sich immerhin bewerben, weil er wohl die dunkle Ahnung hatte, daß dieser Sohn nicht für eine bürgerliche Laufbahn taugte. Albert stellte sich ungeschickt an, er bekam nur Absagen. Schließlich steckte man ihn in den Juwelierladen von Hugos Vater, wo er in der Werkstatt eine Goldschmiedelehre absolvieren sollte, denn im Schuhgeschäft wollte man ihn unter keinen Umständen herumstehen sehen. Es war ein großes Entgegenkommen von Idas Schwiegervater, daß er Albert aufnahm, aber es wurde ein einziges Fiasko. Unser Bruder entpuppte sich als handwerklich unbegabt und faul. Dabei hatte er bereits als Kind eine Vorliebe für Perlen gehabt, so daß man ihm etwas mehr gestalterische Fähigkeiten zugetraut hätte. Hugos Vater kündigte ihm, es gab Streit zwischen beiden Familien. Mein Vater stellte Hugo als Nichtsnutz hin, der die älteste Tochter geschwängert und mich zur Raucherin gemacht habe und im Geschäft eine Niete sei, mit dem er es aber dennoch ausgehalten habe; nun hätte er erwartet, daß man sich im Gegenzug ähnlich großzügig zeigte.
    Dann strebte Albert eine Lehre als Kostümbildner an, aber man wollte den Bock lieber nicht zum Gärtner machen. Alle möglichen Berufe fern jeder fetischistischen Versuchung wurden erörtert. Es gab damals unter den jungen Akademikern eine unverhältnismäßig hohe Zahl an Arbeitslosen, und von daher schien es sinnlos, Albert auf einer anderen Schule das Abitur machen zu lassen. Um wenigstens etwas Geld zu verdienen, saß mein Bruder jeden Abend an der Kinokasse.
    1927 hatte ich die Höhere Töchterschule hinter mich gebracht, dann ein Jahr im Schuhgeschäft verplempert und mich schließlich in einer Handelsschule mit Stenografie und Maschinenschreiben geplagt. In dieser Zeit lernte ich Miele kennen, die ebenfalls einen kaufmännischen Beruf erlernen sollte. Aber erst ein Jahr später, als Heiner die Verlobung mit Miele auflöste, wurden wir Freundinnen. Sie brachte mir Charleston bei und schleppte mich zum Friseur, wo ich meine erste Dauerwelle erhielt. Ich versuchte, ihr kesses Auftreten ein wenig zu imitieren. Für Hugo blieb zwar eine gewisse Schwäche erhalten, aber ich verliebte mich in der neuen Schule ziemlich rasch in einen jungen Lehrer. Aus den Augen, aus dem

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