Kalt ist der Abendhauch
Viermal in der Woche saß er als Nachtportier in einem Hotel, das die Amerikaner beschlagnahmt hatten, und versuchte, New Yorker Zeitschriften zu lesen. Es war ein begehrter Job, den Hugo dank Beziehungen, dem Nachweis, niemals Parteimitglied gewesen zu sein, und dank seiner leidlich guten Englischkenntnisse ergattert hatte. Von den Amis brachte er für die Kinder Kaugummi und Schokolade mit und für uns beide Zigaretten. Ich hatte mir seit meiner Hochzeit das Rauchen abgewöhnt, denn Bernhard war ein strikter Nikotingegner gewesen. Nun saßen wir, wie früher im Schuhlager, qualmend und plaudernd traulich zusammen.
Immer häufiger blieb Hugo nun auch an den Wochenenden bei mir; Ida wußte, daß ihr Mann körperlich ausgelaugt war und Ruhe brauchte. Außerdem glaubte sie, daß er oft auch am Sonntag als Portier Dienst tat. Eigentlich, dachte ich immer wieder, müßte sie doch Verdacht schöpfen.
Es kam alles anders.
Hugo hatte Nachtschicht, die Kinder schliefen mit je einer Gummi-Wärmflasche, draußen war es kalt und dunkel, der Regen mit Schnee vermischt. Eigentlich war es nicht ungemütlich in meinem kleinen Haus; ich hockte in der Küche, die als einziger Raum beheizt wurde, las bei einer trüben Funzel Axel Munthes Buch von San Michele und gedachte, demnächst das Bett vorzuwärmen und Hugo träumend zu erwarten.
Da klopfte es heftig an die Haustür. Ich rannte sofort furcht-und arglos in den Flur und öffnete.
Draußen stand ein bleiches Gespenst, den Umrissen nach ein kranker fremder Mann. Er wankte wortlos herein und ließ seinen zerlumpten Mantel fallen. Dann griff er nach mir: »Charlotte, ich bin am Ende!«
Ich schrie auf und wich zurück. Mein toter Ehemann war dem Grabe entstiegen.
Bernhard setzte sich. Es sei klar, daß ich erschrecke, er sehe sicher entsetzlich aus.
Das stimmte allerdings, widerwillig begann ich ihn zu betrachten: Die Kleider hingen in Fetzen, er war bis aufs Skelett abgemagert, die Haut wies violette Verfärbungen auf, und ein bestialischer Gestank erfüllte den kleinen Raum. Mir wurde schlecht, aber mein noch schlechteres Gewissen ließ mich endlich fragen, wo er herkomme.
Vor mehr als drei Jahren hatten Bernhards Kameraden ihn schwer verwundet auf dem Schlachtfeld liegengelassen, da sie ihn für tot hielten. Aus einem russischen Lazarett wurde er in
ein sibirisches Schweigelager überführt, wo es verboten war, Angehörigen zu schreiben. Er mußte schwerste Fronarbeit beim Straßenbau verrichten. Vor einer Woche schließlich hatte das Rote Kreuz seine Entlassung durchgesetzt, weil ein schwedischer Arzt ihn für unheilbar krank hielt. Man besorgte ihm eine Fahrkarte und setzte ihn in einen Zug.
Schließlich fragte Bernhard nach seinen Kindern. »Sie liegen längst im Bett«, sagte ich, »sie waren häufig krank, aber jetzt geht es aufwärts.«
Bernhard war zu müde, um sich die Kinder ansehen zu gehen. »Ich darf sie sowieso nicht an mich drücken, ich habe offene Tuberkulose«, sagte er.
So, dachte ich, aber mich wolltest du umarmen. »Hast du keinen Hunger?« fragte ich schließlich verlegen.
»Nein«, sagte Bernhard zuerst, aber dann: »Hunger ist gar kein Wort dafür.« Er brach in einen trockenen Husten aus.
In einigen Stunden würde Hugo heimkommen. Um meine zittrige Nervosität zu überspielen, schleppte ich alles an, was ich an Vorräten hatte, und das war viel. Ich hatte am Vormittag meine Wochenration an Lebensmittelmarken abgetrennt und eingelöst, Hugo hatte außerdem im Tausch gegen Großvaters Kuckucksuhr fünf große amerikanische Dosen Milch- und Eipulver, Corned beef, Nescafe und eine Stange Lucky Strike erhalten. Ich öffnete die viereckige Rindfleischkonserve, schnitt Brot, schnippelte Kartoffeln vom Vortag und briet sie in reichlich Schmalz. Bernhard sah mit starrem Blick zu. Auf einmal griff er nach einer Scheibe Brot und fing endlich an zu essen, immer schneller, gieriger, atemloser. Hoffentlich verträgt er's, dachte ich, er scheint ja zu denken, wir hätten es immer so üppig gehabt.
Mein totgesagter Ehemann deutete schmatzend auf Hugos Whiskey. »Tee wäre wahrscheinlich bekömmlicher«, murmelte ich und öffnete die Flasche.
Bernhard, der früher so feine Tischmanieren hatte, stopfte sich die Bratkartoffeln mit den Fingern in den Mund und trank aus der Flasche. Fett und Alkohol liefen ihm die Mundwinkel herunter, dazu tropfte seine Nase, und die roten Augen quollen hervor. Ich fühlte mich wie in einem Alptraum.
Immer weiterkauend zog sich
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