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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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ungewisses Masseurgehalt eintauschen. Anton hätte mir gern geholfen, aber praktische Argumente leuchteten ihm ein. »Also, auf eine jute Onkelehe!« sagte er, »und dat et keine Josephsehe wird!«
    Du mußt wissen, Hulda, daß die in der Nachkriegszeit sehr verbreitet war. Viele Soldatenwitwen wollten ihre mageren Renten nicht verlieren, und so sagten die Kinder einfach »Onkel« statt »Papa« zu dem neuen Mann. In der Bevölkerung wurde dieser Status wohlwollend geduldet.
    Mit zwei Kindern an der einen und einem Blinden an der anderen Hand ging ich 1947 zum ersten Mal nach dem Krieg wieder ins Kino, in einen neuen Film mit Hans Albers. Vor seiner Einberufung war Anton ebenso filmbegeistert wie mein Bruder Albert gewesen, und so ging er, obwohl er nur noch den Ton mitbekam, als treuer Onkel mit. Abends hörte er gern Radio oder ließ sich vorlesen. Aber ich wußte, daß er in puncto Literatur dem Vergleich mit Hugo niemals standhielt. Anton mochte nicht über Krieg und Gefangenschaft reden, jedoch ließ ihm die Brutalität und Grausamkeit, die man den Soldaten aufgezwungen hatte, selbst im Schlaf keine Ruhe. Manchmal war es so schlimm, daß ich ihn wecken mußte. Seine toten Augen weinten. Ein einziges Mal sprach er mitten in der Nacht davon, wie er russische Kriegsgefangene auf langen Hungermärschen hatte erschießen müssen. Er haderte auch nie mit seinem Schicksal, sondern hielt es für eine gerechte Strafe.
    Anton ging mit mir zum Arzt, ließ die Schwangerschaft attestieren und sorgte dafür, daß ich die mir zustehende Sonderration an Lebensmittelmarken erhielt. Ich hätte mich vielleicht um gar nichts gekümmert. Als mein Bauch sichtbar dicker wurde, trat er stolz als werdender Vater auf. Wie ich später erfuhr, war er in der Gefangenschaft durch eine Infektion zeugungsunfähig geworden. Es war nicht nur Altruismus, der ihn in diese Rolle drängte, er gefiel sich ganz einfach als Papa. Mein Gott, Anton war ein guter Mensch, ohne den verfluchten Krieg wäre er als tüchtiger Handwerker das Oberhaupt einer großen Familie geworden.
    Hulda ist ganz Ohr. »Du lobst deinen Tünnes ja über den grünen Klee«, sagt sie, »anscheinend hast du ein verdammt schlechtes Gewissen.«
    Ja, das ist wahr. Ich habe Anton gern gehabt, nicht mehr und nicht weniger. Aber immerhin habe ich für ihn gekocht und gewaschen, ihn morgens ins Krankenhaus geführt und auf allen Wegen mitgenommen. Aber er - er hat mich herzlich geliebt: Als Regine geboren wurde, ließ er sich urkundlich als nichtehelicher Vater eintragen. Dabei wußte er natürlich, daß ihn diese Unterschrift zu jahrelangen Zahlungen verpflichtete.
    Ich erinnere mich noch gut daran, wie Felix in der Schule die jüngste deutsche Geschichte durchnahm. »Oma, das ist deine Zeit«, sagte er, »da kennst du dich doch besser aus als meine
    Lehrer.« Im Prinzip hatte er recht, aber ich vergesse politische Daten, verdränge sogar erlittenen Hunger und das Elend der Nachkriegszeit, den Schwarzmarkt, die Nürnberger Prozesse, die Trümmerfrauen, die Demontage wichtiger Industriewerke, die Flüchtlinge und Kriegsgefangenen, die täglich auf den Bahnhöfen ankamen. Was ich nie vergesse, sind meine Gefühle der Demütigung, der Trauer, der Hoffnungslosigkeit. Erlittener Schmerz über verratene Liebe ist schlimmer als Pest, Krieg und Hungersnot, wage ich zu behaupten. Und ich gehe sogar noch weiter: Wäre Hugo damals gestorben, hätte ich es eher ertragen als die Tatsache, daß es ihm in Frankfurt relativ gutging. Er lebte für seinen Beruf, er spielte bei einer Laienaufführung in »Draußen vor der Tür« den Beckmann, er lernte bekannte Verleger und Autoren kennen. Ein paar Jahre später nahm er an der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels teil, war Mitorganisator der ersten Nachkriegs-Buchmesse, machte sich stark für die Idee der neuen preiswerten Taschenbücher. Allerdings klappte es nicht so schnell mit einer Wohnung, Hugo führte noch längere Zeit das ungezwungene Leben eines Junggesellen. Hätte er nicht Anton bei mir vorgefunden, dann wären meine Schwester und ich an den Wochenenden abwechselnd beehrt worden.
    Meine kleine Tochter Regine war eine Frühgeburt und blieb ein Sorgenkind. Als ich sie endlich aus der Klinik holen durfte, war es mit der Nachtruhe vorbei. Alle zwei Stunden mußte sie gefüttert werden, denn sie vertrug nur winzige Portionen. Mir fielen die Haare aus, die Fingernägel rissen ein, die Haut wurde spröde, und der Bauch wollte

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