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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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habe; ich hoffe, du hast inzwischen einen Termin in einem Sanatorium,
    um deine Motten auszukurieren. Nächste Woche muß ich mich in einem Darmstädter Krankenhaus vorstellen und werde dich besuchen. Mensch, alter Knabe, was wir alles in Rußland durchgemacht haben, das glaubt uns keiner. Wenn es geht, hole mich am Dienstag um 14.30 Uhr am Bahnhof ab.
    Dein Anton
    Mein Gott, war das ein Schrecken. Unverzüglich schrieb ich diesem Menschen, Bernhard sei gefallen, und man könne ihn nie mehr besuchen.
    Warum fällt mir - so kurz vor Hugos Besuch - der blinde Anton wieder ein? Weil ich gerade die Pralinen, die mir die lieben Studenten mitgebracht haben, in die Messingdose fülle. Eine schöne Dose! Sie gehört zu mir wie so mancher Gegenstand in meinem Haus, der mir im Laufe meines Lebens in guter Absicht geschenkt wurde.
    Eine ovale Form, ein am Deckel nachträglich angelöteter unpassender Griff, ein zierliches Schlüsselloch - längst ging der Schlüssel verloren -, und vor allem die Jugendstilornamentik zeichnen mein Döschen aus. Vielleicht war es für Zucker bestimmt, den man vor naschhaften Kindern wegschließen mußte. Die geschwungenen Ranken einer Phantasiepflanze werden von gekreuzten Bändern gehalten und schmücken die kleine Büchse auf erlesene Weise; früher einmal schimmerte sie wie reines Gold, mittlerweile ist daraus, besonders im unteren Teil, ein matter Zinkton geworden. Als Anton mir die Dose seiner verstorbenen Mutter übergab, war sie gefüllt mit duftenden Rosenblättern, denn Pralines konnte er sich damals nicht leisten.
    Nachdem ich auf seinen Brief geantwortet hatte, erwartete ich nicht, je wieder etwas von Anton zu hören. Aber am besagten Dienstag hielt ein Taxi vor meinem Haus - eine kleine
    Sensation -, und ein Mann mit Blindenstock und dunkler Brille wurde vom Fahrer zur Tür begleitet. Der Chauffeur wartete, bis ich öffnete, dann verzog er sich. Meine Kinder starrten dem Wagen nach, ich eilte erst einmal zur Toilette, um mich zu übergeben. Meine dritte Schwangerschaft bekam mir nicht.
    Anton war vor sechs Wochen aus Rußland gekommen und hatte sich schon ein wenig gemausert, trug saubere Kleidung und war rasiert, man konnte ihn also keinesfalls mit dem Schreckgespenst vergleichen, das mich in jener furchtbaren Nacht heimgesucht hatte. Natürlich war er abgemagert und erschöpft, aber trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Blindheit nicht ohne Zukunftsvisionen.
    Er verstand nicht, wieso Bernhard angeblich nie bei mir angekommen sei. Man habe ihn vorschriftsmäßig entlassen, sagte er. Ich solle sofort nach seinem Verbleib forschen. Andererseits wußte er wohl, wie krank mein Mann gewesen war, und wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Es sei schon möglich, sagte er, den Verlust vorwegnehmend, daß Bernhard auf dem Transport gestorben sei. Anton war, was man eine rheinische Frohnatur nennt; später erfuhr ich, daß man ihn in seiner Heimat zu seinem Leidwesen gelegentlich Tünnes nannte. Er wollte sich in Darmstadt zum Masseur umschulen lassen, denn das war einer der wenigen Berufe, die für ihn in Frage kamen. Ursprünglich war er gelernter Kachelofenbaumeister.
    Anton fühlte sich wohl bei uns; er war nett zu den Kindern, die sich stets freuten, wenn ein männliches Wesen erschien.
    »Tschöchen und bess demnäx«, sagte er beim Abschied ganz selbstverständlich, als wolle er nun ständig bei uns einkehren.
    Wahrscheinlich fiel Hugo aus allen Wolken, als er bei einem unangekündigten Besuch einen Mann antraf, der sich bei mir als Untermieter eingenistet hatte. Hugo blieb nicht lange, er witterte alles, nur nicht meine Schwangerschaft. Wahrscheinlich meinte er, nun den Grund für meine Schreibfaulheit gefunden zu haben; zu meiner großen Genugtuung war er tief verletzt. Vielleicht hatte ich aus kindischem Trotz Anton allzu schnell angeboten, eines der Kinderzimmer zu mieten, denn ich konnte eine kleine Finanzspritze dringend brauchen. Und allzu schnell war er auch in meinem Bett gelandet und hatte mit seinen tastenden Händen mein Geheimnis erraten.
    »Von wem isset, Liebschen?« fragte er ganz ohne Vorurteile. Ich erfand einen Besatzungssoldaten mit dem populären Namen John Brown. »Braun oder schwarz?« wollte er wissen. Da ich mit Sicherheit ein weißes Kind erwartete, bot er mir galant die Heirat an, falls ich wirklich Witwe sei. Ich erbat als brave höhere Tochter Bedenkzeit. Nach zwei Wochen lehnte ich dankend ab, denn ich wollte meine sichere Rente nicht gegen ein

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