Kalt ist der Abendhauch
sich nicht zurückbilden. Ich begann damals, für eine Firma Adressen zu tippen, eine Arbeit, die ich zu Hause verrichten konnte. Wenn die Kinder in der Schule waren, saß ich zwischen Waschtrog und Milchflasche, zwischen Babybett und Kochtopf an der Schreibmaschine. Sobald ein Handkarren voller Umschläge fertig war, machte ich mich mit Anton als Zugpferd auf den Weg. Ulrich und Veronika taten so, als würden sie schieben, die kleine Regine wurde zuoberst gepackt. Vermutlich sahen wir wie Vagabunden aus, aber es war damals üblich, mit alten Kinder- und Leiterwagen, Fahrradanhängern und Schubkarren unterwegs zu sein. Überhaupt spielten Dürftigkeit und ärmliche Kleidung eine untergeordnete Rolle im gesellschaftlichen Leben, denn die Nachbarn hatten auch nicht mehr.
Wohl oder übel mußte ich meiner Familie die Geburt einer Tochter melden. Alice wußte von Anfang an Bescheid, sie war ja auch die einzige, der ich jemals Regines wahren Vater genannt hatte. Fanni entsetzte sich, aber als wahre Christin mußte sie notgedrungen verzeihen, Monika war es egal. Ida hatte bereits von Hugo erfahren, daß ein Mann in meinem Haus wohnte, was sie wohl als Erleichterung empfand. Das Problem war meine Mutter. In ihrer Generation kannte man keine Onkelehe, ein uneheliches Kind war eine Schande. Vielleicht würde sie es am liebsten sehen, wenn ich ins Wasser ginge, mutmaßte ich. Also bekam Alice den Auftrag, es ihr behutsam beizubringen.
Wieder einmal mußte ich einsehen, daß ich mich in Mutter getäuscht hatte. Sie schrieb einen fast lieben Brief und kündigte ihren Besuch an. Was würde sie von Anton halten? Für meinen Vater wäre ein Handwerker willkommen gewesen, bei ihr wußte ich es nicht.
Wir holten sie vom Bahnhof ab. Die Feldmaus hatte viele Gläser Eingemachtes mitgebracht und schleppte schwer.
Außerdem trug sie einen Rucksack, der aus Hugos Försterzeit stammte. Speck, Eier, Äpfel, Wellfleisch, wie es sich gehört. Anton lud alles in unseren Karren, und wir wanderten mit den Kindern wieder heimwärts. Das Baby hatte ich in der Obhut unserer Nachbarin gelassen. Heute könnte die Jugend nicht einen Bruchteil der Fußmärsche durchstehen, die wir damals mit Kleinkindern und Lasten täglich bewältigen mußten.
Veronika und Ulrich holten den Kinderwagen aus dem Nachbargarten, Anton hob die Kleine vorsichtig hoch und präsentierte sie der Großmutter. »Lurens«, sagte er stolz, »unser Pänzchen!« Meine Mama war liebenswürdig genug, die große Ähnlichkeit ihrer Enkelin mit Anton zu bestätigen. Reginchen sah vom ersten Moment wie Hugos Mutter aus, aber außer mir ist es noch nie jemandem aufgefallen.
Die Jahre nach Regines Geburt würde ich gern aus meinem Gedächtnis streichen, denn sie waren durch eine große Lüge geprägt. Ich spielte eine glückliche Frau; wenn ich mit Anton im Bett lag, stellte ich mir Hugo vor. Je intensiver ich in jener Zeit an ihn dachte, desto klarer wurde mir, daß nur Hugo der Richtige für mich gewesen wäre. Ich fing wieder an, ihm Briefe zu schreiben, und zwar an die Adresse seiner Buchhandlung. Es waren keine Liebesbriefe - wir waren ja längst kein Paar mehr -jedoch listige Versuche, zwischen den Zeilen erotische Erinnerungen in ihm zu wecken. Hugo antwortete mir immer und ließ mich teilhaben an seinem beruflichen Alltag, empfahl mir auch Bücher, aber über sein Liebesleben erfuhr ich leider nichts.
1950 ging es langsam wieder bergauf. Anton schlug mir eines Tages vor, eine Massagepraxis in meinem Häuschen zu eröffnen. Erstens brauche ich ihn dann nicht immer ins Krankenhaus zu geleiten, zweitens könne er unter Umständen durch Privatpatienten wesentlich besser verdienen, denn es gab bereits Kriegsgewinnler mit gut gefüllter Kasse. Ich fand diese Idee nicht schlecht. Im übrigen hatte sich Anton, wahrscheinlich durch seinen unverzagten guten Willen, den Gegebenheiten vorzüglich angepaßt. Hier im Haus bewegte er sich mit großer Sicherheit durch alle Zimmer, es gab nur zuweilen Streit, wenn die Kinder ihr Spielzeug nicht aufgeräumt hatten und er darüber stolperte. Anton konnte Geschirr abtrocknen und Wäsche zusammenfalten, er konnte Betten beziehen und sogar den Tisch decken. Er konnte es nicht nur, er tat es auch, was zur damaligen Zeit für einen Mann alles andere als selbstverständlich war. Gern ließ er sich von Ulrich durch die Straßen führen, um Jagd auf Camel-Zigaretten zu machen, die von den Amis manchmal nur als halbgerauchte Kippen weggeworfen wurden.
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