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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Vater als um sich selbst. Obgleich wir die Sache mit den Pillen immer noch nicht im Griff haben, leugne ich jegliche Pflichtverletzung.
    Früh bin ich auf den Beinen, ich muß ja leider einkaufen. Wenn Großvater Hugo wach wird, soll er ein ordentliches Frühstück vorfinden, ohne Brot und Butter ist das unmöglich. Mit dem Rucksack auf dem Buckel und einer zusätzlichen Tasche für Einkaufszettel, Hausschlüssel und Geldbörse mache ich mich auf den Weg. Zwei Personen essen nun einmal mehr als eine; zwar hat Felix neulich einen gewissen Grundvorrat besorgt, aber ich habe bei meinen Aufträgen nicht an alles gedacht. Als Hugo bei mir ankam, war es für meine lieben Kinder anfangs Ehrensache, dauernd anzurufen, vorbeizuschauen und Hilfe anzubieten, inzwischen hat sich das weitgehend gelegt; man nimmt an, daß wir es auch ohne sie schaffen.
    Im Supermarkt hänge ich die Tasche an meinen Einkaufswagen und wiege zwei Bananen und drei Äpfel ab; als ich das Obst in mein Wägelchen legen will, sehe ich gerade noch, wie sich ein junger Mann mein Portemonnaie schnappt, über die Barriere hechtet und wegläuft. Zwei Verkäuferinnen nehmen die Verfolgung auf, aber gegen einen Sprinter in Fußballschuhen haben sie keine Chance. Trotz meiner eigenen Turnschuhe bleibe ich wie angewurzelt stehen. Hundert Mark sind weg, ich muß noch froh sein, daß mir die Handtasche mit den Papieren, dem Schlüssel und der Ersatzbrille geblieben ist. Zum ersten Mal in meinem Leben bezahle ich an der Kasse mit einem Scheck, denn Schulden will ich auf gar keinen Fall machen.
    Beim Heimweg wird mir schwindlig, so wie es Hugo neulich auf dem Friedhof erging. Ich kenne jede Bank in meiner Gegend
    und kann mich ohne fremde Hilfe dorthin retten. Hugo wird sich wundern, wo ich und das Frühstück bleiben.
    Aber zu Hause ist Ruhe. Wahrscheinlich liegt der Müßiggänger noch im Bett. Ohne zu hetzen, kann ich meine Einkäufe auspacken, den Tisch decken und Kaffeewasser aufsetzen. Doch was war das für ein dumpfer Ton? Ist Hugo im Badezimmer gestürzt? Seit er hier ist, hat er kein einziges Mal gebadet, und ich habe dieses heikle Thema wohlweislich gemieden.
    Zwar finde ich ihn weder in der Wanne noch im Bett, doch ein befremdliches Dröhnen hallt erneut durchs ganze Haus. Das klingt verdächtig nach Einbrechern, schießt es mir durch den Kopf, und Hugo liegt gefesselt und geknebelt in der Mansarde! Plötzlich vernehme ich deutlich, daß die Geräusche aus dem Keller kommen. Ohne zu überlegen, haste ich nach unten und denke nicht daran, daß mir der besorgte Felix die Telefonnummer von Polizei, Feuerwehr und Notarzt in Riesenzahlen an den Schlafzimmerschrank geheftet hat.
    Die Axt im Haus befreit vom Ehemann, scheint Hugo zu denken. Vor Bernhards Mausoleum hat er sich aufgebaut und schlägt, ohne mich überhaupt wahrzunehmen, mit voller Kraft gegen das oberste Mauerstück. Ein Steinbrocken poltert herunter und wäre mir beinahe auf die Füße gefallen.
    »Bist du verrückt geworden?« schreie ich. »Was in aller Welt hast du dir dabei gedacht?«
    Hugo fährt zusammen; aber als er mich sieht, lächelt er ohne Schuldbewußtsein. »Eigentlich sollte es eine Überraschung werden, und ich wäre bereits fertig... Aber es ist alles nicht so einfach, wie ich dachte.«
    Was dachte er denn?
    Hugo hatte vor, mit dem Beil ein kleines Loch in die Grabmauer zu hauen, und zwar nur in Kopfhöhe. Dann wollte er aus dem sicherlich skelettierten Schädel das Gebiß entnehmen und alles wieder säuberlich zumauern. »Ohne die Zähne ist eine Identifizierung kaum möglich«, sagt er, »und die Beißer kann ich ohne jeden Aufwand an einem regnerischen Tag in den Großen Woog schmeißen.«
    Ich höre atemlos zu. Hugo will den Helden spielen, er wird infantil. Nicht ohne Geschick klopft er mit einem Meißel bröckeligen Zement rund um das Loch ab, schiebt schließlich die Hemdmanschette hoch und fährt mit erhobenem Arm in die dunkle Höhle hinein. Offensichtlich stößt er ins Leere.
    »Er kann doch nicht weg sein«, murmelt er. Mich packt eine beschämende Neugier, in die sich Grusel mischt - nun will ich es wissen. Wie sieht man aus nach fünfzig Kellerjahren?
    »Ist dir nie aufgefallen, daß es überhaupt nicht stinkt?« fragt Hugo.
    Das ist allerdings wahr. Die ersten Monate nach Bernhards Tod habe ich es zwar tunlichst vermieden, diesen Ort zu betreten, aber später konnte ich es nicht umgehen. Niemals muffelte es anders als in den übrigen Kellerräumen: nach Kohle,

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