Kalt ist der Abendhauch
Küche zu benützen, erschienen uns anfangs wie ein Paradies. Ich teilte mit Regine ein Zimmer, Veronika eines mit Fanni, Ulrich bekam als männliches Familienmitglied das kleinste Stübchen für sich. Bei schönem Wetter tummelten wir uns im Ossiacher See, und ich lernte gemeinsam mit Regine endlich schwimmen. Fanni verweigerte sich dem Wassersport und blieb strickend am Ufer. Unter ihrer Anleitung verbrachten wir viele Stunden damit, Pfifferlinge und Maronenröhrlinge zu sammeln, um uns abends in der fremden ländlichen Küche Speck mit Zwiebeln und Pilzen zu braten.
Die sommerliche Heiterkeit unserer Ferien wurde bald getrübt. Nicht etwa ich fand einen Verehrer, sondern meine Tochter. Veronika hatte sich in den ersten Tagen im handgestrickten, eingelaufenen Badeanzug mit der Dorfjugend bei kindlichen Wasserspielen gemein gemacht; es gefiel ihr, daß man sie Vroni nannte. Aber von einem Tag auf den anderen hatte sie Besseres im Kopf. Ein amerikanischer Schüler, der seine Großeltern in Villach besuchte, war wie ein Nöck aus dem See aufgetaucht und hatte sie naßgespritzt. Der junge Mann sprach kaum Deutsch, meine Tochter mußte ihr schlechtes Schulenglisch bemühen, was mir aus pädagogischer Sicht nur recht sein konnte. Wahrscheinlich hätte ich ihr diesen Flirt mit leichtem Neid gegönnt, wenn sich nicht Fanni über die Maßen aufgeregt hätte. »Das darfst du nicht erlauben!« befahl sie mir. Aber was sollte ich verbieten? Die beiden gingen Hand in Hand hinter uns her, plauderten und entdeckten gelegentlich einen Pfifferling. »Siehst du nicht dieses Glitzern in ihren Augen?« hetzte Fanni.
Später wurde mir klar, wie recht sie hatte. Ulrich hielt im übrigen zu seiner Tante. Er befand den Eindringling für ungebildet, aufdringlich und zurückgeblieben, außerdem habe er einen Silberblick. Regine, die unter jahrelangen Schikanen ihrer großen Schwester gelitten haben mochte, fand es lustig, das Liebespaar durch immerwährende Aufmerksamkeit zu
terrorisieren, wozu sie der Bruder diskret anstiftete. Ich kam der Verliebten nicht zu Hilfe.
Eines Abends war Veronika verschwunden. Auf einem Tablett trug ich Brot, Tiroler Speck und Rührei in den Garten, wo wir auf einer Holzbank, umgeben von blühendem Phlox, unsere Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Alle fanden sich stets pünktlich ein, weil der Magen nach den Badefreuden knurrte. »Wo ist Veronika?«
Selbst Regine, die in ihrer Spitzeltätigkeit nie ermüdete, wußte es nicht. Die sonst so gelassene Fanni verlor die Nerven. Sie phantasierte Mord und Vergewaltigung, woran ich durch allzu großes Laisser-faire schuld sei. Ich sah dagegen eine schwangere Tochter vor mir, die Hals über Kopf einen schielenden Amerikaner heiraten mußte. Ulrich rannte sofort zur Polizei; leider wußten wir nur, daß der Entführer Steven hieß, seinen vollen Namen kannten wir nicht.
Hugo hört aufmerksam zu. Ähnliche Dinge hat er bei seiner Heidemarie natürlich nie erlebt. Vielleicht wird ihm bei meiner Schilderung klar, daß eine Mutter auch im Urlaub nicht unbeschwert genießen kann, ganz abgesehen davon, daß sie schwerlich einen neuen Lebenspartner findet.
»Wo steckte das Herzchen?« fragt er. »Und handelte es sich um denselben Ami, den sie dann geheiratet hat?«
»O nein, Steven war der erste Amerikaner aus einer Serie, ein Yankee aus dem Norden. Es schien, als müßte sie möglichst viele Staaten testen, bis sie schließlich mit neunzehn Jahren ihren Walter aus L. A. heiratete.«
Veronika wurde nach drei Tagen zurückgebracht, weil sie beim Trampen nach Gretna Green kein Glück gehabt hatten. Die Polizei hatte das Pärchen in Spittal aufgegriffen. Ich bilde mir immer noch ein, daß ich damals die ersten grauen Haare bekam.
»Und Fanni?« fragt Hugo.
Meine Schwester empfing die heulende Veronika mit den Worten: »Bist du noch Jungfrau?« Natürlich log das Kind. Stevens Großeltern lasen ihm übrigens dermaßen die Leviten, daß er sich nie wieder zu uns traute. Fanni ließ sich durch die Auskunft ihrer Nichte kaum beruhigen, hackte ständig auf uns herum, warf mir vor, den Kindern ein tägliches Tischgebet vorzuenthalten, und führte es eigenhändig ein. Nur Regine hielt ihr die Treue, Veronika lag mit motzigem Gesicht im Bett, Ulrich las und las, so wie er es heute immer noch zu tun pflegt.
»Was las er denn?« fragt Hugo.
»Griechische Philosophen«, sage ich, »in seinem Alter begeisterten sich andere noch für Karl May. Übrigens war dieser Urlaub der erste
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