Kalt ist der Abendhauch
immerhin feurige Südländerinnen zu Gesicht bekam, waren es bei Gert im allgemeinen Rotkehlchen. Alice verteidigte dieses Hobby: Es beruhige ihren Mann, der mit seinen fahrigen Händen sowieso keine Spritze setzen konnte (das übernahm sie), stundenlang auf ein Vögelchen zu warten.
Aber irgendwann war ihm das anscheinend selbst zu hausbacken. Er plante eine Fernreise - eine Fotosafari nach Afrika -, um sich dort größeren Tieren zu widmen. Unsere couragierte Alice, die eine große Arztpraxis virtuos im Griff hatte, wehrte sich nach Kräften: Sie litt unter Flugangst. Einmal im Leben hatte sie - gemeinsam mit mir - eine Reise nach Amerika unternommen, und zwar zur Taufe von Veronikas erstem Sohn Mike. Den Hinflug hatte sie im Rausch der Bordschnäpse und unter Zuhilfenahme von Schlafmitteln glimpflich hinter sich gebracht, aber auf dem Rückweg - als es tatsächlich Turbulenzen gab - geriet sie in Todesängste. Sie weigerte sich, jemals im Leben wieder in ein Flugzeug zu steigen.
Um ihrem Mann seinen Traum zu lassen, verzichtete sie auf Afrika. Der ängstliche Gert machte sich mit seinem Bruder auf die Reise und blieb von da an verschollen. Zwar wurde ermittelt, daß die beiden in einem geliehenen Jeep losgefahren waren, aber mehr konnten weder Polizei noch Botschaft herausfinden. Jahre später fand man das ausgebrannte Autowrack in einer Schlucht. Erst 1972 ließ Alice ihren Mann für tot erklären.
Nach diesem Trauma entwickelte meine Schwester eine allgemeine Abneigung gegen das Reisen. Auch die kurze Bahnfahrt zu mir ist ihr nicht geheuer. Eher noch steht meine Tochter aus Amerika plötzlich vor der Tür als meine Schwester aus dem Taunus. Früher haben wir den Spieß umgedreht, und ich habe Alice regelmäßig besucht. Jetzt geht es nur, wenn mich Regine, Felix oder Ulrich hinbringen. Das ist selten. Aber wir telefonieren häufig und wissen sehr viel voneinander. Alice hat zehn Jahre nach Gerts Verschwinden die Praxis verkauft und arbeitete noch bis ins Rentenalter bei Pro Familia als Beraterin. Und eine Ratgeberin ist sie mir stets geblieben, was sie sagt, hat Hand und Fuß.
Alice hatte vor und nach ihrem Gert keinen Mann. Bei Ida bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie Hugo vielleicht doch am Anfang ihrer Ehe einmal betrogen hat. Aber alles in allem bin ich mit drei verschiedenen Bettgenossen eindeutig die Erfahrenste in meiner Generation. Wie es bei meinen Töchtern und Enkelinnen aussieht, ist allerdings eine andere Geschichte; gegen Cora bin ich sicherlich die reinste Nonne. Ob sie heute mit all ihrer Freiheit glücklicher sind?
Spontan beschließe ich, Alice anzurufen. Hugo schläft noch, meine Schwester dagegen hat immer Zeit für ein kleines Schwätzchen. Eigentlich besteht kein Grund mehr, ihr mein letztes Geheimnis nicht auch noch zu verraten.
Sie ist wie immer gleich am Apparat und hört atemlos zu, als ich vom ein- und ausgemauerten Bernhard erzähle.
»Phantastisch«, sagt sie, »wie im Film. Aber ich habe dir auch etwas Aufregendes zu beichten. Bevor wir beide in die Grube fahren, sollten wir uns diese kleinen Freuden gönnen...« Sie holt sich eine Zigarette, und ich höre, wie sie tief inhaliert.
»Hast du eigentlich auch in Anwesenheit deiner Patienten geraucht?« frage ich.
»Selten«, sagt Alice und schweigt nun doch.
Als es mir zu dumm wird, hake ich nach. »Laß mich raten. Gert hat sich mit einer Bantufrau eingelassen, die mit einem eifersüchtigen Häuptling verheiratet war. Der wildgewordene Mann engagierte eine dankbare Löwin, der er einmal einen Dorn aus der Tatze gezogen hatte, damit sie den weißen Ehebrecher ihren Jungen als Sonntagsbraten servierte.«
»Nicht schlecht«, sagt Alice, »aber du bist mir zu frivol. Es hat nichts mit Gert zu tun. Ich habe einen anderen Mann auf dem Gewissen.«
Meine Schwester war - bereits als Witwe - einem Heiratsschwindler in die Hände geraten. Zwar ging es nicht um Geld und Besitz, sondern um Morphium. Alice, die in ihrem nüchternen Leben wenig Glanz erlebt hatte, fiel wie ein junges Mädchen auf Gedichte und Wiesensträußchen herein. Klar, daß sie ihm helfen wollte, seine Sucht zu überwinden; als Ärztin war sie ja geradezu prädestiniert für diesen Auftrag.
»Es zog sich über drei Jahre hin. Er belog und bestahl mich, inszenierte tränenreiche Versöhnungen, stiftete mich zu kriminellen Rezeptabgaben an und ließ mich an mir selbst verzweifeln. Als ich aber eines Tages einen Brief fand, den er Constanze geschrieben hatte, habe
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