Kalt ist der Abendhauch
dagegen, bei hellichtem Tag eine so heikle Fracht ins Auto zu schaffen und womöglich stundenlang auf einem überfüllten Parkplatz zu lagern. »Morgen«, sage ich, »heute bleibt Bernhard hier, und damit basta.«
Als Cora verschwindet, lasse ich mich schleunigst aufs Sofa fallen, bevor Hugo auf die gleiche Idee kommt.
»Tolle Frau«, sagt er, »aber du warst schöner und vor allem empfindsamer.« Er küßt meine Hand und beginnt doch tatsächlich, Geschirr in die Küche zu tragen.
Leider handelt er nach dem alten Sprichwort >Der Esel schleppt sich lieber tot, bevor er zweimal geht<. Hugo hat Teller und Tassen aufeinandergestapelt und läßt sie allesamt fallen. Wohl oder übel muß ich mein Plätzchen verlassen, Schippe und Handfeger holen und dabei entdecken, daß Hugo blitzschnell den begehrten Liegeplatz besetzt hat. Ich werde so zornig, daß ich ihm die Scherben von der Schaufel auf den Bauch kippe.
Hugo feixt. »Vielleicht solltest du dich auf deine alten Tage nicht mehr über Bagatellen aufregen. Übrigens gibt es bei Edgar Allan Poe eine Geschichte... «
Plötzlich sehe ich, daß er im Gesicht blaurot anläuft.
An ein Leben nach dem Tod kann ich nicht so richtig glauben, aber manchmal habe ich doch das Gefühl, daß meine verstorbenen Geschwister und meine Eltern um mich sind, mich beobachten, mir vielleicht helfen. Mit Albert halte ich seit Jahrzehnten unhörbare Zwiegespräche. »Was denkst du hiervon und davon, mein armer Bruder? Gefallen dir meine Kinder? So, sie sind dir fremd, mir auch zuweilen...« Ob auch ich einmal in den Köpfen meiner Nachkommen herumwabere, ob sie mich im Rascheln der Blätter, im Flug der Vögel, im Duft der Rosen wahrnehmen werden? Ich möchte mich in Wind und Wasser, Wolken und Licht auflösen und geliebte Menschen freundlich umschmeicheln. Aber mein Verstand bezeichnet solche Dinge als »Humbug«. Und das Paradies als Belohnung für unser irdisches Sündenleben kann ich mir schon gar nicht vorstellen.
Zwar gefällt mir die Ahnenverehrung asiatischer Kulturen, die Lehre von der Wiedergeburt dagegen gar nicht. Alles noch einmal von vorn - welch abscheulicher Gedanke - und am Ende ein glitschiger Regenwurm oder ein nimmersatter Aasgeier.
Gestern habe ich zum ersten Mal meine Tochter mitten in der Arbeit gestört. Sie mußte eine Gruppe schwangerer Frauen, die wie dicke Käfer rücklings auf Matten lagen, allein weiterstrampeln lassen. Als sie hörte, daß Hugo nicht mehr richtig sprechen konnte und unverständliches Zeug brabbelte, fuhr sie mich gleich zornig an. »Wie oft habe ich dich schon ermahnt, dir einen Hausarzt zuzulegen!« Nun, sie ist mit einem Arzt befreundet und jagte ihn aus der Sprechstunde heraus zu mir.
Nachdem er durchblutungsfördernde Mittel verabreicht bekommen hatte, ging es Hugo rasch besser. Zum Glück handelte es sich nicht um einen Schlaganfall, sondern nur um eine vorübergehende Blutleere im Hirn.
Hugo lehnt es ab, sich zur Beobachtung ins Krankenhaus einweisen zu lassen. Nun liegt er den ganzen Tag auf meinem Sofa und behauptet aus Angst, es ginge ihm vorzüglich.
Meine liebe Alice, mit der ich telefonierte, hat mich etwas ermutigt. »Ich habe häufig festgestellt, daß sich alte Leute im Krankenhaus aufgeben. Sie brauchen das eigene Bett, die gewohnte Umgebung, sie hassen fremde Gesichter. Laß doch täglich eine Pflegerin kommen, die den Blutdruck mißt, ihn wäscht und eventuell füttert. Du schaffst das nicht mehr, Charlotte.«
Aber fremde Gesichter stören mich auch. Krankenschwestern, Haushaltshilfen, Ärzte, Essensbringer können mir im Grunde gestohlen bleiben, zumal Bernhard immer noch unbeerdigt in meinem Keller liegt. Da war es mir schon hart, den fremden Internisten ins Haus zu lassen.
Ich bin ziemlich sicher, daß Hugo vor mir sterben muß. Er ist älter als ich, und außerdem segnen Männer sowieso früher das Zeitliche als wir. Wie werde ich seinen Tod verkraften? Hugo bedeutet mir alles - oder? Manchmal habe ich das Gefühl, daß mich das ewige Warten auf ihn am Leben erhalten, andererseits aber viel Kraft gekostet hat. Vielleicht täte es mir viel besser, wenn ich nicht mehr auf Briefe, Anrufe oder gar Besuche lauern müßte.
Jede volle Stunde versuche ich, Cora zu erreichen. Sie hat mir fest versprochen, heute für die Umbettung zu sorgen. Es ist bereits Nachmittag, als sie sich meldet. Aber Vorwürfe wären ungeschickt, ich bin auf die Hilfe meiner Enkelin angewiesen und darf sie auf keinen Fall vergraulen.
»Es ist
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