Kalt, kaltes Herz
mit ihr versöhnt hätte – und vielleicht auch mit sich selbst. Nach einer Minute startete ich den Rover. Von Korff bis zur Salem Station war es nur ein Katzensprung. Während der ganzen Fahrt sagte ich mir, daß ich ein Idiot war, weil ich der Vergangenheit hinterherjagte. Aber ich kehrte nicht um. Auf dem Bahnhof schlenderte ich die Bahnsteige entlang, auf der Suche nach etwas, das Erinnerungen in mir wachrufen würde. Erst nach über einer halben Stunde setzte ich mich auf eine Bank gegenüber von Gleis 4, wo ein Mosaik aus grünen und weißen Kacheln an der Wand prangte. Die Kacheln kamen mir bekannt vor. Ein paar Leute warteten auf den Zug, aber ich nahm sie kaum noch wahr, als ich auf die Gleise starrte. Furcht und Sehnsucht erfüllten mich. Wie gerne hätte ich mich an die Szene in allen Einzelheiten erinnert, so wie sie wirklich stattgefunden hatte. Doch manchmal ist der Verstand klüger als das Herz. Nur ein einziges Bild tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah das bartstoppelige Gesicht meines Vaters zwischen den Schienensträngen, und es wirkte so friedlich, wie ich es sonst niemals erlebt hatte. Und dann hallten die Worte in meinem Kopf wider,
die
eigentlich seine letzten hätten sein sollen:
Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.
Das Rattern eines Zuges riß mich aus meinen Gedanken. Ich schlug die Augen auf und beobachtete, wie er näherkam. Und trotz des Lärms hörte ich wieder die Stimme meines Vaters. Ich wartete, bis die Fahrgäste eingestiegen waren, und blickte dem Zug nach.
17
Die Fahrt hätte auf der 95 Nord nicht so lange gedauert, aber da ich keine Eile hatte, nahm ich die 1A, die an verschlafenen Städtchen wie Topsfield, Rowley und Georgetown vorbeiführte. Etwa auf halbem Wege nach Plum Island hielt ich am Straßenrand, kroch unter den Rover und riß die LoJack-Box ab. Ich hatte keine Lust, Malloy meine Bewegungen auf einem Computerbildschirm mitverfolgen zu lassen.
Als ich die Zufahrtsstraße überquerte und vor dem Hauptgebäude des Waltons' hielt, ging bereits die Sonne unter. Das einstöckige Holzhaus lag direkt am Strand. Ich stellte den Wagen ab und stieg die Vortreppe hinauf zur Rezeption. Niemand war da, aber ich hatte telephonisch unsere alte Hütte reserviert. An der Tür hing ein Umschlag mit meinem Namen. Der Schlüssel zu Hütte
6
steckte darin.
Die Hütte sah noch so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte –klein, ländlich, Boden und Decke aus unlasierten Kiefernbrettern. In einer Zimmerecke befand sich die Kochnische. Bett und Wohnbereich, von dem Glastüren direkt zum Strand führten, waren durch eine Falttür getrennt. Ich beobachtete die Wellen, die gegen den Sand schlugen und in einer weißen Schaumkrone nur wenige Meter vor meinen Füßen ausliefen. Ein Vogelschwarm flog in Formation über mich hinweg. Die friedliche Stimmung brachte mir meine innere Anspannung nur noch deutlicher zu Bewußtsein. Es war i8:25. Aus der Jackentasche holte ich eine Spritze und die mitgebrachten Ampullen Haldol und Ativan. Ich zog je drei Kubikzentimeter auf, die Dosis, mit der ich als Assistenzarzt in der Notaufnahme aufgebrachte Patienten beruhigt hatte. Dann kauerte ich mich vors Bett und legte die Spritzen am Kopfende auf den Boden.
Ich brauchte Ruhe, doch ich wollte auf keinen Fall einschlafen. Also setzte ich mich aufs Sofa und schaltete die Abendnachrichten ein. Ich war zwar zu aufgeregt, um die Berichte zu verfolgen, aber das beruhigende Stimmengemurmel des Moderators und der Korrespondenten lenkte mich vom Grübeln ab.
Zehn Minuten später hörte ich ein Klopfen – erst leise, dann lauter. Ich stellte den Fernseher ab, ging zur Tür, holte tief Luft und öffnete.
Kathy stand da, eine schwarze Reisetasche aus Leder in der Hand.
Ich starrte sie an, als ob ich in den Wahnsinn hineinblicken könnte, der sich hinter der Fassade verbarg. Am liebsten hätte ich sie an den Haaren in
die
Hütte geschleppt und sie die Schmerzen spüren lassen, die sie anderen zugefügt hatte. Und
mir.
Allerdings bezweifelte ich, daß es mir gelingen würde, Gefühle in ihr auszulösen. Sie war durch ihr Leiden abgestumpft.
»Da bin ich«, sagte sie. Sie biß sich auf die Unterlippe und blickte auf ihr hellrosa Kleid herab. Es war einem Herrenhemd nachempfunden und mit Kunstperlen anstelle von Knöpfen versehen. Sie hatte es so weit geöffnet, daß ich den sanften Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. »Ich habe mir bei Ann Taylor was Neues gekauft, damit ich hübsch für dich bin.«
Weitere Kostenlose Bücher