Kalt, kaltes Herz
Billy als Dieb anerkannt worden war, kam er ein knappes Jahr lang zweimal in der Woche zu mir. Etwa hundert Stunden lang spielten wir in meinem Büro Fußball, sprachen über Einsamkeit, Angst und Wut und teilten uns bei Sunrise Subs in meiner Straße gewaltige Käsesteaks. Dann hatte er seine Strafe verbüßt und sollte wieder zu einer Pflegefamilie kommen – den Worths, die im Westen des Bundesstaates lebten.
»Schade, daß ich nicht bei dir wohnen kann«, sagte er kichernd.
Daran hatte ich auch schon gedacht, allerdings nicht ernsthaft. Das Jugendamt hätte sonst Bedenken wegen meiner »therapeutischen Distanz« bekommen. Und was noch wichtiger war, ich hätte meine geliebte Unabhängigkeit aufgeben müssen. »Du schaffst es schon«, meinte ich.
Nach zwei Monaten trank Billy wieder zuviel. Seine »Familie« sprach davon, ihn abzuschieben. Er rief mich an und bat mich, ihn zu besuchen. Aber ich antwortete, ich wolle mich nicht einmischen, weil er und die Worths ihre Probleme selbst klären müßten. »Häng dich ein bißchen rein. Ich melde mich in ein paar Tagen«, sagte ich.
Er schluchzte.
»Okay?«
»Okay«, brachte er heraus.
Am nächsten Tag rief mich Anne Sacon, eine Sachbearbeiterin des Jugendamtes, an. »Dr. Clevenger«, meinte sie, »ich habe schlechte Nachrichten von Billy.«
Zuerst vermutete ich, daß er wieder ein Auto gestohlen hatte und im Knast saß. Fast freute ich mich über die Gelegenheit, wieder mit ihm zu arbeiten. »Wo steckt denn Billy the Kid? Im Hochsicherheitstrakt?« fragte ich.
Sie holte tief Luft. »Billy ist tot. Er hat sich das Leben genommen.«
»Selbstmord?«
»Mr. Worth hat ihn in der Garage gefunden. Er hat sich mit einem Seil an einem Deckenbalken erhängt.«
»Wann?«
»Gestern nachmittag.«
»Was ist passiert? Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Es war ziemlich unheimlich«, antwortete sie. »›Häng dich rein‹ stand drauf.«
Ich zitterte am ganzen Leibe.
»Sind Sie noch dran?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Da Sie die Therapie bereits abgeschlossen hatten, kümmern wir uns um den Papierkram und den endgültigen Bericht.« Ein seltsames Wort, um sich von Billy zu verabschieden, dachte ich – abgeschlossen. »Gibt es jemanden, den ich informieren müßte?«
»Er hatte niemanden außer Ihnen.«
Nach dem Telephonat dachte ich daran, daß Billy mich eigentlich auch nicht richtig gehabt hatte. Ich war ihm zweimal in der Woche gegen Honorar zur Verfügung gestanden. Doch als es hart auf hart ging und er wirklich einen Vater brauchte, hatte ich ihm nicht mehr gegeben als mein eigener Vater mir. Nicht einmal als er mit seinen Kräften am Ende war, hatte ich die abgrundtiefe Verzweiflung in seiner Stimme bemerkt.
Immer mehr fragte ich mich, ob ich nicht nur mit der Lebensgeschichte anderer Menschen spielte, anstatt mich ernsthaft damit zu befassen. Ob ich nicht die wichtigen Seiten überblätterte. Drei Monate nach Billys Tod beendete ich die Therapie meiner übrigen Patienten und schloß meine Praxis.
Zwei BMWs fuhren nebeneinander auf dem Storrow Drive nach Osten wie eine bewegliche Straßensperre. Ich folgte ihnen auf der Überholspur, aber keine Chance. Deshalb beugte ich mich vor, um bessere Sicht zu haben, wechselte auf den Seitenstreifen, überholte und scherte vor ihnen ein.
Ich hatte gehofft, daß es in der Gerichtspsychiatrie mehr um Tatsachen als um Gefühle, mehr um Beweise als um mich selbst gehen würde. Aber Fehlanzeige. Irgend etwas in mir sorgte dafür, daß ich die destruktiven Tendenzen anderer Menschen nicht erkannte –bei Prescott und jetzt bei Westmoreland.
Am Belle Circle in Revere überfuhr ich eine gelbe Ampel und versuchte die beiden Spuren zur Auffahrt der Route 1A zu überqueren. Doch als ich am Lenkrad drehte, raste der Wagen weiter geradeaus. »Verdammt«, murmelte ich. »Bitte nicht jetzt.« Ich lenkte in Richtung Straßenböschung und trat auf die Bremse. Als ich gerade spürte, wie die Reifen griffen, setzte ein alter, roter Mustang zum Überholen an. Ich schaltete in einen niedrigen Gang und bremste kräftig. Die Fahrertür verfehlte ich zwar, aber ich rammte ihn an der Heckverkleidung.
Als ich den Rover wieder unter Kontrolle hatte, kurvte ich weiter im Kreisverkehr herum. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach so schnell wie möglich nach Boston weiterzufahren. Meine Versicherung hatte mir gekündigt, weil ich die Beiträge nicht bezahlt hatte, und in meinem Handschuhfach lagen sechs Strafzettel wegen Falschparkens.
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