Kalt, kaltes Herz
Schmerz zu verdrängen?
Im Geiste hörte ich Ted Pearson, wie er mir erklärte, daß jedes Verbrechen letztlich darauf zurückgeführt werden kann, daß der Täter sich weigert, seinen Schmerz zuzulassen. »Deshalb ist man moralisch verpflichtet«, sagte er, »sich den eigenen Problemen zu stellen. Nur dann können Sie ein anderer Mensch werden als Ihr Vater.«
Pearsons Warnung verhinderte jedoch nicht, daß ich meine Psychotherapie abbrach. jetzt sah ich ein, daß er recht hatte. Wie viele Menschen wollte ich noch verletzen, bevor ich den Schmerz annahm?
Ich hielt das Säckchen zwischen den Fingerspitzen. Verlockend rieselte das Pulver im Beutel. Ich riß die Schweißnaht auf, steckte die angefeuchtete Fingerspitze hinein und ließ den sauren Geschmack des Kokains noch ein letztes Mal auf der Zunge zergehen. Als sei es das Normalste der Welt, kippte ich dann die drei Gramm Koks aus dem Fenster. Eine Zeitlang saß ich reglos da. Ich zwang mich dazu, nicht die Fahrzeugtür zu öffnen und nachzusehen, ob man einen Teil des Pulvers wieder vom Pflaster aufkratzen konnte. Doch erst als ich mir vorstellte, wie ich auf den Knien lag und den Boden ableckte, verabschiedete ich mich endgültig von diesem Gedanken.
Ich mußte Emma Hancock berichten, daß Lucas Moniques Ring hatte. Doch erst wollte ich mir darüber klar werden, was ich ihr außerdem noch erzählen wollte. In meiner Wut und meiner Eifersucht konnte ich mich leicht dazu verleiten lassen, Lucas als den Mörder hinzustellen. Dabei wußte ich eigentlich nur, daß er etwas besaß, das dem zweiten Opfer gehört hatte. Zwar stand fest, daß er Monique kurz vor ihrem Tode gesehen hatte, aber das traf auf mich auch zu. Außerdem beschäftigte mich die Frage, die er mir gestellt hatte. Warum hätte er sie töten sollen? Falls er wirklich ein heimlicher Frauenhasser war, hatte er sich den idealen Beruf ausgesucht: Er durfte Frauen aufschneiden und wurde dafür auch noch prima bezahlt. Aber vielleicht reichte ihm (las jetzt nicht mehr, vielleicht fehlte ihm der Kitzel, weil sich seine Patientinnen freiwillig unters Messer legten. Schließlich mußte er seine Wut im OP soweit zügeln, daß er sich nach den Wünschen seiner Auftraggeberinnen richtete. Vielleicht hatte er es satt, ein Messerheld auf Bestellung zu sein. Womöglich verschaffte es einem Mann, der im Grunde seines Herzens ein Schlächter war, keine rechte Befriedigung mehr, saubere Schnitte an Gesicht oder Brust einer Frau anzusetzen. Doch warum zeigte er mir dann den Ring? Wollte er damit erreichen, daß ich ihn an seinem Tun hinderte? Das klang mir zu klischeehaft.
Mir waren Motive noch immer nicht klar. Vielleicht ließ sich ein Hinweis in Moniques Wohnung finden. Ich startete den Rover und setzte zurück. Am liebsten hätte ich vor meiner Abfahrt den Boden nach Kokainkrümeln abgesucht. Schließlich mußte ich nachdenken. Doch zum erstenmal seit langem begriff ich, daß ich mich endlich mit meinen Gefühlen beschäftigen mußte.
Die Union Street mündet in die Joyce Street, und die wiederum führt in die Highlands, jenes Gebiet von Lynn, das die ärmsten Bewohner beherbergt – ein Glasscherbenviertel, in dem Glassplitter auf den Straßen glitzern, zerrissene Bettlaken anstelle von Vorhängen aus den Fensteröffnungen wehen und zerbrochene Flaschen die Bordsteinkante säumen. Nachdem ich nach links in die Monroe Avenue eingebogen war, hielt ich vor der Nummer 115, einem schmuddeligen, grünen, zweistöckigen Gebäude. In der Einfahrt stand ein verrosteter Pick-up, und auf der nackten Erde, wo eigentlich der Vorgarten sein sollte, parkten zwei Streifenwagen.
Nur an der obersten der drei Klingeln befand sich ein Schild. Auf dem vergilbten Papier standen die Namen Marzipan und Peletier.
Ich betrat den Flur. Der abgestandene Geruch erinnerte mich an das Mietshaus, in dem ich aufgewachsen war, allerdings mit einer leicht süßlichen Komponente – geschmolzenes Kokain. Die Wohnung rechts von der Treppe hatte keine Tür, und ich sah eine Anzahl Matratzen auf der orangefarbenen Auslegeware. Zu Kugeln zusammengedrückte Aluminiumfolie lag auf dem Boden. Ich wußte, wozu sie gut war. Die Wohnung war eine Crack-Höhle. Für einen Zehner bekam man eine Ration, ein Stück Folie, um sich eine Pfeife zu basteln, und ein Plätzchen, wo man sie in Ruhe rauchen konnte. Der Müll auf dem Boden wies darauf hin, daß die Geschäfte glänzend liefen. Wahrscheinlich würde Malloy sie wieder öffnen lassen – gegen eine
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