Kalt kommt der Tod (German Edition)
sind. Das Überraschungsmoment würde bei dieser Mission ihr größter Verbündeter sein.
In der Fahrrinne der Elbe stauten sich die großen Pötte. Wegen des liegen gebliebenen chinesischen Containerschiffs kamen sie immer noch nicht voran. Ihre gewaltigen Rümpfe ragten wie schwarze Himmel in die Höhe und versperrten den Blick auf das andere Ufer.
Jerschow hielt sich weitab von ihnen, im flachen Wasser, und raste an ihnen vorbei.
Er hatte sich die Pläne der Carte Blanche eingeprägt, kannte ihre Stärken und Schwächen. Um schnell und ungesehen an Bord zu kommen, gab es nur eine Stelle: am Heck, unmittelbar über den Schiffsschrauben, dort befand sich eine ausfahrbare Plattform, die beim Ankern in sonnigen Buchten als Badeinsel diente.
In den Konvoi der lahmgelegten Schiffe kam langsam Bewegung. Das Hindernis war also beseitigt, dachte Jerschow und atmete auf. Die Aufmerksamkeit auf der Brücke der Carte Blanche würde sich nun ausschließlich wieder dem Schiffsverkehr zuwenden.
Er versuchte, sich auf seinen bevorstehenden Job zu konzentrieren, doch seit er den Namen Boris Below gehört hatte, spukte der Name wie ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten in seinem Kopf herum. Er hoffte inständig, dass sie vor seinem Ex-Ausbilder da sein würden und die Aktion beenden konnten, ehe es zur Konfrontation kam.
Schon damals war Boris Below ein unberechenbarer Psychopath gewesen. In allem, was er tat, und noch mehr in allem, was er nicht tat. Daran hatte sich vermutlich bis heute nichts geändert. Die Willkür seiner Entscheidungen machte diesen Mann zu einer gefährlichen Waffe, für seine Feinde ebenso wie für seine eigenen Männer. Am eigenen Leib hatte Artjom Jerschow das zu spüren bekommen.
Als wäre auch die Narbe, die sich auf seinem linken Arm vom Ellbogen bis fast zum Handrücken zog, eben wieder daran erinnert worden, begann sie zu schmerzen. Sie war der zweite Teil der Abrechnung, die auf seinem Konto mit Below stand.
Vorn im Schlauchboot streckte Juri Gussew den Arm aus und deutete auf ein hell erleuchtetes weißes Schiff.
Die Carte Blanche schien direkt auf sie zuzufahren.
Jerschow zog das Ruder zu sich heran, steuerte das Boot in einem weiten Bogen und fuhr in einigem Abstand an der Yacht vorbei.
Er hatte eine Entscheidung getroffen. Eine, von der seine Begleiter nichts zu wissen brauchten.
110
Dimitrij Choma verriegelte die Tür.
»Jetzt sind wir noch alleiner«, sagte Carolin. Aber ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich bemühte, lässig zu klingen.
Dimitrij drehte sich zu ihr um.
»Ganz nach meinem Geschmack.«
Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern.
»Zieh dich aus!«
Carolin zwang sich zu einem Lächeln.
»Deiner Mutter hätte es nicht gefallen, was du mit mir vorhast. Bin ich nicht beinahe genauso alt wie sie? Wen siehst du, wenn du mich vögelst? Vielleicht ist es ihr Gesicht, das du dann siehst.«
»Ich habe Fantasie«, sagte Dimtrij.
»Die wirst du brauchen, mein Junge.«
Sie musste ihn kleinmachen, vor sich selbst, ihm den Mumm nehmen. Die Überlegene spielen.
Mutter werden.
»Hat sie dir vorgelesen, als du klein warst? Abends, vor dem Schlafengehen? Bevor das Sandmännchen kam und dir Sand in die Augen streute? Hat sie dir Brote geschmiert für die Schule? Dich gebadet und beschützt?«
»Und noch viel mehr«, entgegnete Dimitrij.
»Kannst du sie sehen? Jetzt? Vor deinem geistigen Auge?«
Worte waren ihre einzige Waffe. Wenn sie die richtigen Worte findet, kann sie ihn vielleicht treffen.
»Wie sah sie aus? War sie blond? Dunkelhaarig? Wie trug sie ihr Haar? Schminkte sie sich? Wie zog sie sich an? Denk nach! Sieh dir deine Mutter an.«
Für einen kurzen Augenblick bemerkte sie einen milden Glanz in seinen Augen.
»Willst du deiner Mutter das wirklich antun?«
Sie durfte nicht nachlassen.
Jäh schlug Dimitrijs vorübergehende Sentimentalität in Zorn um.
Carolin sah den Schlag kommen, aber er kam zu schnell, um ihm auszuweichen. Die Wucht der klatschenden Ohrfeige schleuderte sie aufs Bett.
»Sie ist tot«, sagte Dimitrij. »Egal, wo sie jetzt ist, ich gehöre nicht zu denjenigen, die glauben, dass man von dort aus alles sieht.«
Er zog sein Hemd aus und schlüpfte aus seiner Hose.
Carolin wischte sich Blut aus dem Mundwinkel. Sie musste weiterreden, Zeit gewinnen, eine neue Taktik finden.
»Hat sie es auch mit jedem getrieben? Wie ihr Sohn?«
Dimitrij grinste.
»Ich mag es, wenn man mich provoziert. Das bringt mich in Fahrt.«
Er stand
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