Kalt kommt der Tod (German Edition)
nämlich die Art von Geschichte, die man aus mehreren Blickwinkeln betrachten kann.«
»In guten Märchen muss das Dunkle vollendet leuchten, deshalb müssen die Geschichten nicht unbedingt wahr sein, willst du mir das damit sagen?«
Er fuhr sich mit den Händen über den Kopf und lächelte müde.
»Langsam begreife ich, warum sie dich zur Professorin gemacht haben.«
»Man kann immer etwas lernen, wenn man sich mit mir unterhält.«
44
Die Kälte war schlimm.
Ein paar Möwen flogen vorbei, als sie ihre Gesichtsmasken überzogen, die Stirnlampen aufsetzten und ihre Skidoos starteten. Die Schreie der Möwen klangen wie spöttisches Lachen.
Der Mond hob sich goldglühend und scharf gegen das Dunkel der Nacht ab. Auf den Straßen war alles ruhig. Ein leichter Dunst bildete um die Straßenlaternen herum Heiligenscheine. Der Boden war ziemlich glatt, und der gnadenlose Wind, der vom Fjord her wehte, war lästig.
Mit langsamem Tempo glitten sie nach Süden. Jenna saß so sicher und selbstverständlich im Sattel des Skidoos, als würde sie ein zahmes Pony reiten. Weil sie den Weg kannte, überließ Packer ihr die Führung.
Nach wenigen Minuten endete die Straße, und sie fuhren in einem großen Bogen westwärts. In der klaren Luft breitete sich die kahle Landschaft vor ihnen aus, überzogen von Eis und Schnee wie mit einer Kuchenglasur.
Es gab keine Bäume, nirgends. Weiße Bergrücken ragten im wunden Mondlicht schimmernd neben ihnen in den Himmel auf. Die Berge hielten den Wind nicht ab. An den Stellen, wo schroffe Felsen durch den Schnee stießen, sah es aus, als würden die Knochen der Welt hervorbrechen.
Die Sterne über ihnen waren leicht verschwommen, als hätte jemand sie mit zittriger Hand ans Firmament gezeichnet. Zwei Wolkenbänke schoben sich im Osten vor die Sterne. Die Wolken waren steingrau und wirkten muskulös, während sie da oben langsam seewärts trieben. Unten blies der Wind kleine Schneewirbel über das Eis.
Sie fuhren einen sanften Pass hinauf, erreichten eine riesige weiße Hochebene, groß wie eine Stadt, geglättet vom Eis und vom Permafrost und übersät mit nacktem Geröll. Die Ebene erstreckte sich bis zum Horizont, nur unterbrochen von den krummen zackigen Buckeln der vier Berge in ihrer Mitte.
Sie überquerten die Hochebene und hielten auf einen von zwei Bergrücken eingefassten Durchlass zu. Dahinter stieg eine weitere Anhöhe in gewisser Erhabenheit zum Himmel hinauf.
Am Fuß der Steigung hielt Jenna an.
»Ich hab den Bogen zu klein geschlagen, wir sind ein Stück zu weit westlich.«
Sie zogen die Gesichtsmasken ab, während das Motorengeräusch ihrer Skidoos im Leerlauf über der Schneewüste schwebte.
»Rüber kommen wir da nicht«, sagte Jenna und deutete auf die Anhöhe, »wir müssen drum herumfahren.«
»Wie weit ist es noch?«, wollte Packer wissen.
»In Zeit oder Kilometern?«
»Mir egal.«
»Ungefähr zwanzig Minuten.«
Er holte eine Zigarette hervor.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Jenna.
»Wenn ich jetzt keine rauche, bringt diese fantastische Luft mich um, garantiert.«
Er inhalierte drei hastige Züge und schnippte die Kippe in den Schnee.
»Heb sie auf!«, schnappte Jenna. »Spitzbergen soll sauber bleiben, das ist auf den Inseln ein ehernes Gesetz. Jeder hält sich daran. Wer das nicht tut, kriegt einen Haufen Ärger und muss mit einer ordentlichen Geldstrafe rechnen.«
»Wenn man ihn erwischt«, sagte Packer.
»Hab ich gerade.«
»Du würdest mich verpetzen?«
»Aber so was von.«
Also stieg er ab und hob die Kippe auf.
»Zufrieden?«
»Mach das nicht noch mal.«
Er fand ihren Oberlehrerton entzückend, irgendwie passte er zu den wippenden Brüsten, die er schon wieder vor sich sah.
Obwohl sie einigermaßen geschützt hinter einem Felsvorsprung standen, schlitzte der Wind ihnen das Gesicht auf. Sie streiften ihre Masken über und setzten die Brillen auf.
»Wer zuerst bei der Schneedüne da vorn ist!«, rief Jenna.
Dann gab sie Vollgas und preschte los. Von den Kufen ihres Skidoos stoben Eis und Schnee hoch und schlugen Packer ins Gesicht. Für ein paar Sekunden war er blind. Mit dem Handschuhrücken wischte er über die Gläser. Als er wieder sehen konnte, zog Jenna eine lange Schneefahne hinter sich her und lag bereits uneinholbar vorn.
Als sie die Schneedüne erreichte, drosselte sie das Tempo, blieb aber nicht stehen, sondern fuhr vorsichtig weiter, tastete sich in Schlangenlinien über den jetzt schorfigen, von Steinen
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