Kalt kommt der Tod (German Edition)
durchsetzten Untergrund vorwärts.
Packer war hundert Meter hinter ihr. Er folgte ihrem Beispiel und verlangsamte das Tempo.
Zuerst hörte er den Motor ihres Skidoos aufkreischen, dann sah er, wie sie das Fahrzeug nach rechts zog – welchem Hindernis wollte sie ausweichen? – und gleichzeitig hochriss, für einen Moment stand es fast senkrecht in der Luft, ehe sie sich endlich abstieß und nach hinten absprang. Das Skidoo prallte gegen etwas Weißes. Das Weiße wurde zu Boden gerissen, bewegte sich, rappelte sich träge wieder auf.
Keine zehn Meter von dem Eisbären entfernt krümmte sich Jenna im Schnee. Ihr rechter Fuß fühlte sich an, als hätte sie ohne Schuhe gegen eine Mauer getreten. Sie zog ihre Schneebrille ab und sah, wie der Eisbär, zu voller Größe aufgerichtet, auf sie zuschwankte. Seine linke Vordertatze blutete, ein Bein zog er nach.
Packer gab Gas, mit der freien Hand griff er nach dem Gewehr, den Blick nach vorn gerichtet. Der Eisbär blieb stehen, ließ sich auf die Vorderpfoten nieder und schnupperte in der Luft. Vorübergehend verlor er das Interesse an Jenna, die versuchte, auf Knien und Ellenbogen davonzurobben.
Der Bär blieb, wo er war. Anscheinend konnte er sich nicht entscheiden, wer das lohnenswertere Opfer war, Packer oder Jenna. Das Zögern verschaffte Packer genug Zeit, sein Skidoo zwischen ihn und Jenna zu bringen. Er glitt aus dem Sattel, ohne den Bären aus den Augen zu lassen, krabbelte auf allen vieren zu ihr hin. Jenna hatte sich die Skimaske vom Kopf gerissen und stöhnte leise.
Der Bär sah aus, als hätte ihn der liebe Gott persönlich aus dem Himmel geworfen. Er setzte sich schwerfällig in Bewegung, ein über zwei Meter großes Monster mit einem Kampfgewicht von vierhundert Kilo, das es auf leichte Beute abgesehen hatte.
Als sie wieder zu Atem kam, rief Jenna: »Erschieß ihn! Phong, du musst ihn erschießen!«
»Ich finde ihn süß«, erwiderte Packer. Und dachte: Heiland, ist der riesig!
Ein markerschütterndes Brüllen ertönte. Der Bär warf seinen Kopf nach hinten, seine Tatzen fegten durch die Luft.
Er kam näher.
45
Packer sah sein blutverschmiertes Maul. Überall Blut, an den Pfoten, auf dem Bauchfell, an den Ohren.
Jenna sah das Blut auch.
»Das ist er! Wir sind höchstens einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo Sylvia Brustedt gefunden wurde. Schieß endlich, verdammt!«
Packers Sinne liefen auf Hochtouren.
»Ziel auf seine Brust«, rief Jenna, »und die Schulter. Der Kopf ist schwerer zu treffen. Wenn du ihn einmal erwischst, hast du eine größere Chance auf einen zweiten Schuss.«
Packer fragte sich, irgendwo im Hinterkopf: Was soll man dazu sagen? Am vergangenen Sonntag hatte er noch mit Eduardo gemütlich bei Spaghetti Carbonara und zwei Flaschen Frascati im »Mirabella« gesessen, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, nun stand er fast am Nordpol bei gefühlten minus dreißig Grad, die kein Fischstäbchen ertragen würde, zwischen einem wütenden Eisbären und einer nicht minder wütenden Professorin, die glaubte, ihm Befehle erteilen zu müssen.
Einen flüchtigen Moment lang fiel ihm der Bambus in seiner Tasche ein. Natürlich hatte er ihn mitgenommen, das machte er immer – ganz gleich wohin er ging, der Bambus war dabei –, aber diesmal war der Bambus keine gute Idee.
Als sich der Eisbär auf die Vorderfüße niederließ, bemerkte Packer, wie seine Flanken bebten. Bei jedem Atemzug zuckten seine Muskelpakete, und jedes Mal stieß er eine weiße Wolke aus seinem Maul.
Dann kam der Augenblick, wo der Bär sich in Bewegung setzte. Mit wuchtigen, ausgreifenden Schritten stürmte er auf Jenna zu, eine bebende Masse aus Fleisch, Fell und tierischer Raserei. Jenna verbarg schreiend ihren Kopf in den Händen.
Packer hob das Gewehr an die Schulter, atmete ruhig aus und schoss dem Bären eine Kugel durch das linke Auge direkt ins Gehirn. Als der mächtige Körper mit einem dumpfen Schlag auf die Erde krachte, war er bereits tot.
Jenna schrie immer noch. Packer kniete sich zu ihr, wollte sie an der Schulter zu sich herumdrehen, doch sie schlug mit den Armen um sich und schrie noch lauter, bis sie begriff, dass es nicht der Bär war, der nach ihr griff.
»Es ist vorbei«, versuchte Packer sie zu beruhigen. »Ich hab ihn erwischt. Er ist tot.«
Ihr Herz raste. Sie starrte den Bären an. Er lag keine vier Meter entfernt und sah wie ein Schneehügel aus, die Zunge quoll ihm aus dem Maul.
»Ich sehe mal nach«, sagte Packer, »ob er
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