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Kalt kommt der Tod (German Edition)

Kalt kommt der Tod (German Edition)

Titel: Kalt kommt der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Sprado
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auch wirklich hinüber ist.«
    Unter allen möglichen Schüssen war der goldene Schuss der sicherste, direkt ins Gehirn, besser noch: in den Gehirnstamm, um reflexartige Reaktionen zu vermeiden. Der goldene Schuss ließ einen nie im Stich, das hatten ihm die Ausbilder bei der Bremer Polizei eingebläut, wo er zwei Jahre lang am Scharfschützentraining teilgenommen hatte. Einige Tausend Mal hatte er mit dem Präzisionsgewehr geübt, bis er über eine Distanz von einhundertzwanzig Metern den Leberfleck im Gesicht einer Schaufensterpuppe getroffen hatte. Nur Sniper beim Militär konnten es noch besser, die beförderten eine Kugel sogar über eine Distanz von zweitausendfünfhundert Metern millimetergenau ins Ziel. Aber für einen Ex-Bullen, fand Packer, hatte er seinen Job ganz anständig erledigt.
    Als Jenna gewahr wurde, wo die Kugel den Bären getroffen hatte, sagte sie: »Du solltest doch auf seinen Körper zielen.«
    »Hab ich ja«, gab Packer zurück. »Er wollte nicht stillhalten. Was sollte ich machen?«
    Jennas widerwillige Bewunderung nahm zu, da sie ahnte: Das war kein Zufallstreffer, Packer hatte gewusst, was er tat. Und wie er damit umging, beeindruckte sie umso mehr.
    »Dafür musst du dich vor dem Sysselmann verantworten«, sagte sie. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. »Die Leute hier mögen es nicht, wenn man ihre Eisbären abschießt.«
    »Ich könnte behaupten, dass Gefahr im Verzug war.«
    »Könntest du. Vielleicht würde ich sogar als Zeugin auftreten. Mal sehen.«
    Der Nordwind riss ihnen die Silben von den Zungen.
    Ein langes Seufzen, dann stand Jenna auf, ihre Bewegungen waren schwer wie die eines Mannes.
    Packer untersuchte ihr Skidoo. Der Zusammenstoß mit dem Eisbären hatte die vorderen Kufen verzogen, der Motor spuckte nur noch Rauch.
    »Das war große Klasse«, sagte er, »wie du die Kiste hochgerissen und ihm in die Fresse gerammt hast. Ich hab’s genau gesehen, wie ein YouTube-Video, und du mittendrin.«
    »Ich hatte Glück, bei mir hat er stillgehalten«, sagte sie.
    »Weil er sich vor dir erschreckt hat.«
    »Woher weißt du das?«
    »Bin Detektiv.«
    »Vergess ich immer wieder.«
    Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, aber wie würde sie das finden? Also ließ er es bleiben. Stattdessen fragte er: »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«,
    »Meine Mama hat mir verboten, bei Fremden mitzufahren.«
    »Eine kluge Frau, deine Mutter. Du solltest sie anrufen, wenn du angekommen bist.«
    »Lässt du mich ans Steuer?«, fragte sie. »Von uns beiden bin ich diejenige, die mehr Erfahrung mit dem Skidoo hat.«
    »Wie das ausgeht, haben wir gerade gesehen.«
    Er schob das Gewehr ins Futteral, schwang sich in den Sattel und startete den Motor.
    »Je länger wir hier rumbummeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Sysselmann und seine Leute uns einholen. Willst du das?«
    »Und was passiert, wenn sie uns erwischen?«
    »Rauf mit dir!«
    Widerwillig fügte sie sich, saß hinter ihm auf und legte die Arme um seinen Bauch. Doch sie löste die Umklammerung sofort wieder und deutete nach Norden.
    Über dem Horizont zeigte sich der Himmel in den Farben Hellgrün mit Einschüssen von Blau und Violett, wie ein changierender Schleier, bestrahlt von Laserlicht, einem Regenbogen gleich und doch um vieles überwältigender. Die Atmosphäre der Erde, aufgeregt durch starke Sonnenwinde, erwachte zum Leben. Der dramatisch gefärbte Lavafluss überflutete das ganze Firmament. Der Himmel schien in Flammen zu stehen, die Lichter tanzten, sprangen und waberten. Einer Legende der Grönländer zufolge werden die Lichter von einem Walrossschädel erzeugt, den die Geister der Verstorbenen hin und her werfen.
    Das war Poesie.
    »Aurora borealis«, schrie Jenna ihm ins Ohr, »die lateinische Bezeichnung für Morgenröte. Besonders heftige Ausbrüche in der Korona der Sonne sorgen dafür, dass Elektronen auf Sauerstoff- und Stickstoffmoleküle treffen, die sie zum Leuchten bringen.«
    Das war Wissenschaft.
    Poesie gefiel ihm besser.
    Gedankenverloren verfolgte er das Schauspiel und vergaß glatt, loszufahren.
    Während er Jenna zuhörte, die ihm von höheren Energiezuständen, Lichtmolekülen und fluoreszierenden Erscheinungen erzählte, fragte sich Packer, wie es angehen konnte, dass es sonst doch immer die Frauen waren, die den Männern vorwarfen, sie hätten kein Gespür für Romantik, und um seine Irritation komplett zu machen, fügte Jenna hinzu: »Man kann nie sagen, wann und wo die

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