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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Jilly sehen konnte. Aber kaum hatte er in die leere Luft gekniffen, begann sich die Ecke des Zimmers einzuklappen.
    » Nein «, sagte Jilly atemlos, und obwohl sie wusste, dass Shepherd vor Berührungen oft zurückschreckte, streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. » Tu ’ s nicht, Kleiner. «
    Die dreifarbigen Streifen auf der Tapete, die bisher nur am Berührungspunkt der Wände nicht zusammengepasst hatten, falteten sich nun reihenweise in alle möglichen Richtungen, bi s d ie Ecke so verformt war, dass Jilly keine vom Boden zur Decke reichende Linie mehr erkennen konnte.
    Inzwischen stand Dylan an Sheps anderer Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. » Bleib hier, Junge«, sagte er. »Bleib hier bei uns, da bist du sicher.«
    Das Falten kam zum Stillstand, aber die Ecke behielt ihre surreale Geometrie bei.
    Jilly hatte den Eindruck, jenen kleinen Teil der Welt durch ein achtseitiges Prisma hindurch zu betrachten. Ihr Verstand rebellierte gegen den Anblick, der jeder Logik auf eine Weise spottete, wie es selbst der leuchtende Tunnel in der Wand nicht getan hatte.
    Jillys rechte Handfläche lag noch immer auf dem Rücken von Sheps rechter Hand, aber sie hatte Angst, ihn zu etwas zu zwingen, weil jede Bewegung sie alle womöglich weiter von hier nach dort falten würde, wo immer dort diesmal sein mochte. » Mach es wieder gerade, Shep «, sagte sie mit aller Dringlichkeit. In ihrer Stimme schwang ein Zittern mit, das genauso seltsam war wie die vor ihr gefalteten Wände. » Lass los, Schatz. Mach es wieder gerade, so wie es sein sollte. «
    Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt Shepherd noch immer das Gewebe der Wirklichkeit.
    Langsam wandte er den Kopf und schaute Jilly an. Er sah ihr so offen in die Augen, wie er es bisher nur ein einziges Mal getan hatte – im Auto vor dem Haus an der Eucalyptus Avenue, gleich nachdem Dylan ohne Erklärung davongestürmt war. Da hatte er den Blickkontakt allerdings sofort wieder abgebrochen und weggeschaut.
    Diesmal hielt er Jillys Blick stand. Seine grünen Augen waren so tief wie das Meer und schienen von innen her zu leuchten.
    » Spürst du es? «, fragte er.
    » Was denn? «
    » Spürst du, wie es funktioniert? Alles, was es gibt, dreht sich immer rundherum. «
    Wahrscheinlich dachte er, sie könne durch den Kontakt mit seiner Hand spüren, was er zwischen Daumen und Zeigefinger wahrnahm, aber sie spürte nur seine warme Haut und die Kanten seiner Mittelhandknochen und Knöchel. Zumindest hätte sie erwartet, eine gewaltige Spannung wahrzunehmen und zu merken, wie sehr Shep sich anstrengen musste, um dieses un glaubliche Kunststück zustande zu bringen, aber er schien ganz entspannt zu sein. Offenbar machte es ihm nicht mehr Mühe, die Ecke einzuklappen, als ein Handtuch zu falten.
    » Spürst du die Schönheit aller Dinge, die es gibt? «, fragte Shep mit einer Direktheit, die keine Spur eines autistischen Abstands mehr aufwies.
    So schön die geheime Struktur der Wirklichkeit auch sein mochte, ein derart enger Kontakt mit diesem Mysterium machte Jilly nicht so viel Freude wie Shepherd. Stattdessen saß ihr ein eisiger Schrecken in den Knochen. Sie wollte gar nicht verstehen, was da vor sich ging, sondern Shep nur dazu bringen, dieses Tor zu schließen, bevor er es ganz geöffnet hatte.
    » Bitte mach es wieder gerade, Shep «, sagte sie. » Mach es glatt, damit ich spüren kann, wie es sich auseinander faltet. «
    Jillys Vater war ein Jahr zuvor bei einem fehlgeschlagenen Drogendeal erschossen worden, und nun hatte sie eine schreckliche Phantasie: Wenn Shepherd jetzt nicht aufhörte, wenn er die Ecke weiter faltete und sie von hier nach dort brachte, würde sie sich plötzlich ihrem verhassten Alten gegenübersehen wie so oft, wenn sie die Wohnungstür geöffnet und in sein gefährliches Lächeln geblickt hatte. Irgendwie erwartete sie, dass Shep das Tor zur Hölle ebenso leicht aufreißen konnte wie das nach Kalifornien und damit ihrem Vater unwissentlich die Gelegenheit geben würde, aus dem Jenseits nach ihr zu greifen und seine Drohung wahr zu machen, sie zu blenden – nicht auf einem Auge, sondern auf beiden: Ich komme wegen der Augenversicherung, meine Süße. Ihr habt die Versicherungsprämie doch, oder?
    Sheps Blick wanderte von Jilly weg und richtete sich wieder auf seinen Daumen und den Zeigefinger.
    Vorhin hatte Shep den Punkt inmitten der Luft von links nach rechts gezogen, jetzt zog er ihn von rechts nach links.
    Die chaotischen Streifen

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