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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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jaulten.
    Sie fragte sich, wann die Polizei eintreffen würde. Falls sie eintraf. Dylan hatte gesagt, die nächste Ortschaft liege mehrere Meilen weit entfernt. Der nächste Nachbar lebe eine halbe Meile südlich von hier. Trotzdem musste doch irgendjemand die Schüsse gehört haben.
    Allerdings hatte der Angriff erst vor etwa fünf Minuten begonnen, und keine ländliche Polizeidienststelle konnte auf einen Anruf so schnell reagieren. Wenn jemand kam, dann frühestens in fünf Minuten, wahrscheinlich sogar erst in zehn.
    » Wo ist das ganze Eis? «, fragte Shepherd genauso laut wie vorher.
    Statt ihn noch einmal zum Schweigen zu bringen, antwortete Jilly mit leiser Stimme, um ihm ein Beispiel zu geben: » Im Kühlschrank, Süßer. Da ist das ganze Eis. «
    In der südwestlichen Ecke des Dachbodens angelangt, brachte Jilly den Jungen dazu, sich gemeinsam mit ihr hinter einem Stapel Pappkartons auf den staubigen Boden zu hocken.
    Durch eine mit einem Drahtgitter verschlossene Entlüftungsöffnung fiel mattes Tageslicht auf einen schon seit längerem toten Vogel, vielleicht einen Sperling, von dessen Körper nur noch papierdünne Knochen übrig waren. Dazwischen hatten sich wenige Federn verfangen, die vom Luftzug nicht in andere Ecken des Dachbodens geweht worden waren.
    An einem kalten Tag musste der Vogel durch einen Spalt im Dachgesims hereingeschlüpft sein, ohne je wieder einen Weg hinauszufinden. Vielleicht hatte er sich einen Flügel gebrochen, als er an die Dachsparren geflattert war. Jedenfalls hatte er bestimmt erschöpft und hungrig vor der vergitterten Öffnung, von wo aus er den Himmel sehen konnte, auf seinen Tod gewartet.
    » Wo ist das ganze Eis? «, fragte Shepherd. Diesmal hatte er die Stimme zu einem Flüstern gesenkt.
    Jilly hatte Angst, dass Shep nicht so weit aus seiner eisigen Ecke gekommen war, wie sie gedacht hatte, oder dass er womöglich wieder ganz in ihr versank. Deshalb forcierte sie ihr neues Spiel, um einen Dialog herzustellen. » In einer Margarita ist auch Eis, stimmt ’ s, Schatz? Schönes, matschiges Eis. Mann, jetzt könnte ich eine gebrauchen! «
    » Wo ist das ganze Eis? «
    » In einer Kühlbox kann Eis sein. «
    » Wo ist das ganze Eis? «
    » An Weihnachten hat ’ s in Neuengland Eis … und Schnee. «
    Für seine Körpergröße bewegte Dylan sich erstaunlich geschmeidig und leise, während er aus der tieferen Dunkelheit in der Mitte des Dachbodens in das matte Licht trat, das den Zufluchtsort von Jilly und Shep erhellte. Er hockte sich neben seinen Bruder. » Noch immer im Eis? «, fragte er besorgt.
    » Wir machen Fortschritte «, sagte Jilly mit mehr Zuversicht, als sie eigentlich verspürte.
    » Wo ist das ganze Eis? «, flüsterte Shep.
    » Auf Eisbahnen gibt ’ s eine Menge Eis. «
    » Wo ist das ganze Eis? «
    » In einer Eismaschine ist überhaupt bloß Eis. «
    Im Obergeschoss krachten Stiefel an Türen. Lärmend und polternd drang man in Zimmer ein.
    Noch leiser flüsternd, fragte Shep: » Wo ist das ganze Eis? «
    » Ich sehe Champagner in einem silbernen Kübel «, sagte Jilly im selben Ton, » und rund um die Flasche ist zermahlenes Eis. «
    » Wo ist das ganze Eis? «
    » Am Nordpol ist sehr, sehr viel Eis. «
    » Aaaah «, sagte Shepherd lang gezogen, und dann schwieg er eine Weile.
    Jilly lauschte angespannt. Statt des Donnerns und Krachens einer gewalttätigen Suche wurden nun Stimmen hörbar. Leider waren sie so undeutlich, als stammten sie von mumifizierten Verschwörern in Pyramidengräbern, die durch ihr Leichentuch hindurch sprachen. Nichts, was sie sagten, war auf dem Dachboden verständlich.
    » Aaaah «, hauchte Shepherd.
    » Wir müssen weiter, Kleiner «, sagte Dylan. » Es ist höchste Zeit, uns von hier wegzufalten. «
    Unten versank das verwüstete Haus in Schweigen, und nach einer halben Minute kam den dreien die beunruhigende Stille unheilvoller vor als alles, was ihr vorangegangen war.
    » Kleiner «, sagte Dylan, verzichtete jedoch auf eine weitere Aufforderung. Wahrscheinlich hatte er gespürt, dass Shep besser auf dieses Schweigen, diese Ruhe reagieren würde als auf zusätzlichen Druck.
    Vor ihrem geistigen Auge sah Jilly die Küchenuhr. Das Schwein grinste, während der Sekundenzeiger an den Ziffern auf seinem Bauch vorbeihuschte.
    Noch in der Erinnerung verstörte dieses Grinsen sie, als sie das Bild jedoch verdrängte, sah sie stattdessen, gleichermaßen ungebeten, den Kurzzeitwecker, den Shep beim Duschen verwendete. Dieses Bild

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