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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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beschämen, zu ducken und nicht hochkommen zu lassen. Gab man sich zu sehr der Demut hin, dann nahm man solchem Ungeziefer die Arbeit ab.
    Wie er so dasaß und nach vorn auf den sich entrollenden oder aufrollenden Highway schaute, wie immer man es betrachten mochte, sah Dylan O ’ Conner so gelassen aus, wie Jilly ihn noch nie gesehen hatte und wie sie es unter den gegebenen Umständen auch nie erwartet hätte. Offenbar besaß schon der Gedanke an seine Kunst, an die Herausforderung, die Schönheit der Welt auf einer zweidimensionalen Leinwand zu verherrlichen, die Kraft, seine Angst in Schach zu halten, zumindest für kurze Zeit.
    Jilly bewunderte die offenkundige Zuversicht, mit der er seine Berufung angenommen hatte, und ohne zu fragen, wusste sie, dass er sich für den Fall eines künstlerischen Scheiterns nie ein Hintertürchen offen gelassen hatte, ganz im Gegensatz zu ihrem Plan, eine Reservekarriere als Bestsellerautorin in Betracht zu ziehen. Eine solche Sicherheit beneidete sie, aber statt ihren Neid als Brennstoff für ein Feuerchen aus gesunder Wut nutzen zu können, um das frostige Gefühl der Unzulänglichkeit zu vertreiben, versank sie nur tiefer in einem kalten Bad aus Demut.
    In ihrem selbst gewählten Schweigen hörte Jilly einmal mehr das leise, silberhelle Lachen von Kindern. Vielleicht war es auch nur die Erinnerung daran, da war sie sich nicht so sicher. Dann spürte oder phantasierte sie etwas, was so flüchtig war wie ein kühler Luftzug, der ihr über Arme, Hals und Gesicht strich – gefiederte Schwingen, die zuckten, zuckten und zitterten.
    Als sie die Augen schloss, um bloß keiner weiteren Fata Morgana zu erliegen, die sich womöglich ankündigte, gelang es ihr, das Kinderlachen auszublenden.
    Auch die Flügel zogen sich zurück, doch dann überkam Jilly ein noch beunruhigenderes und erstaunlicheres Gefühl: Sie nahm intensiv und deutlich jede Nervenbahn in ihrem Körper wahr, sie konnte – als Wärme, als prickelnden Strom – die genaue Position und den komplexen Verlauf aller zwölf Gehirnnervenpaare spüren und alle einunddreißig Paare Rückenmarksnerven. Wäre sie eine Künstlerin gewesen, so hätte sie ein exakte Karte der abertausend Axone zeichnen und jedes Axon mit der genauen Zahl an Neuronen ausstatten können, aus denen sein fasriger Strang bestand. Sie war sich der Millionen elektrischer Impulse bewusst, die über die Sinnesnerven Informationen von den Extremitäten ihres Körpers ans Rückenmark und ans Gehirn übermittelten, und sie spürte die ebenso große Zahl von Impulsen, mit denen das Gehirn den Muskeln, Organen und Drüsen Befehle sandte. Ein dreidimensionales Bild des Zentralnervensystems stieg in ihr auf: Milliarden miteinander verbundener Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark pulsierten als Lichtpunkte in vielen flimmernden Farben.
    Ein ganzes Universum in ihrem Innern wurde ihr bewusst, bestehend aus Galaxien schillernder Neuronen, und plötzlich hatte sie das Gefühl, in einen kalten, weiten Raum voller Sterne zu trudeln wie eine Astronautin, die auf ihrem Weltraumspaziergang das Kabel gelöst hatte, das sie sicher mit ihrem Raumschiff verband. Vor ihr tat sich die Ewigkeit auf wie ein großer, alles verschlingender Rachen, und sie trieb schneller, immer schneller in diese innere Unermesslichkeit hinein auf ihr Ende zu.
    Abrupt zuckten ihre Augenlider in die Höhe. Das unnatürliche Gewahrsein der Neuronen, Axone und Nervenbahnen verblasste so jäh, wie es sie ergriffen hatte.
    Das Einzige, was sich noch seltsam anfühlte, war nun die Stelle, an der sie die Injektion bekommen hatte. Ein Jucken. Ein Pochen unter dem Häschenpflaster.
    Vor Furcht wie gelähmt, brachte sie es nicht über sich, das Pflaster abzuziehen. Schauer durchliefen sie, während sie auf den winzigen Blutfleck starrte, der den Mull von unten her durchdrungen hatte.
    Als diese lähmende Angst allmählich nachließ, hob sie den Blick von ihrer Armbeuge und sah einen Strom aus weißen Tauben unmittelbar auf den Wagen, in dem sie saß, zufließen. Lautlos kamen die Vögel aus der Nacht und flogen über den nach Osten führenden Fahrbahnen westwärts. Zu hunderten, ja tausenden kamen sie, große geflügelte Scharen; sie teilten sich in parallele Ströme, die an den Seiten des Wagens entlangflossen, sie bildeten einen dritten Strom, der über Kühlerhaube und Windschutzscheibe rauschte, und sie verschwanden wieder in der Nacht, so still wie Vögel in einem Traum ohne jeden Ton.
    Obgleich diese

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