Kalt
zehn Jahren nie mehr richtig zur Ruhe zu kommen.
Inzwischen fuhr Dylan mit siebzig Stundenmeilen dahin, wenngleich er wahrscheinlich behauptet hätte, er fahre nur achtundsechzig. » Tut mir Leid «, sagte er.
Die Entschuldigung überraschte Jilly. » Was tut Ihnen Leid? «
» Mein Ton. Meine Haltung. Dinge, die ich gesagt hab. Ehrlich, normalerweise schafft man es nie, mich in einen Streit hineinzuziehen. «
» Ich hab Sie in gar nichts hineingezogen. «
» Ja, klar «, beeilte er sich zu sagen, » das habe ich auch gar nicht gemeint. Sie haben mich nirgendwo hineingezogen, in keiner Weise. Ich will bloß sagen, dass ich normalerweise nicht wütend werde. Ich halte meinen Zorn zurück. Ich gehe damit um. Ich verwandle ihn in schöpferische Energie. Das gehört einfach zu meiner Philosophie als Künstler. «
Jilly gelang es nicht, ihren Zynismus so geschickt zu unterdrücken, wie Dylan es angeblich mit seiner Wut tat; sie hörte ihn in ihrer Stimme und spürte, wie er ihre Gesichtszüge verzerrte und erstarren ließ. Man hätte nur noch eine dicke Gipsschicht auf ihr Gesicht auftragen müssen, um eine Maske mit dem Titel Hohn und Spott zu schaffen. » Künstler werden nicht wütend, was? «
» Nach den ganzen Vergewaltigungen und Morden haben wir einfach nicht mehr viel negative Energie übrig. «
Dylans Schlagfertigkeit gefiel Jilly. » Tut mir Leid. Wenn Leute anfangen, über ihre Philosophie zu reden, schlägt mein Exkrementdetektor immer gleich Alarm. «
» Und eigentlich haben Sie sogar Recht. So was Großartiges wie eine Philosophie ist es gar nicht. Ich hätte sagen sollen, es ist meine Strategie. Jedenfalls gehöre ich nicht zu den zornigen jungen Künstlern, die Bilder voller Wut, Angst und bitterem Nihilismus produzieren. «
» Was malen Sie dann? «
» Die Welt, wie sie ist. «
» Ach ja? Und wie schaut die heutige Welt in Ihren Augen aus? «
» Verlockend. Wunderschön. Vielschichtig auf eine tiefgründige, wundersame Weise. Geheimnisvoll. « Diese Worte klangen wie ein oft wiederholtes Gebet, aus dem Dylan einen Trost schöpfte, wie nur tiefer Glaube ihn geben konnte. Beim Sprechen wurde seine Stimme immer weicher und leiser, und sein Gesicht begann zu leuchten. Nun sah er gar nicht mehr wi e d er Zeichentrickbär aus, an den er Jilly bisher erinnert hatte.
» Voller Bedeutung, die sich der vollständigen Erkenntnis entzieht. Erfüllt mit einer Wahrheit, die, wenn man sie nicht nur fühlt, sondern auch logisch herleitet, selbst die raueste See durch Hoffnung besänftigt. So voller Schönheit, dass ich weder die Begabung noch die Zeit habe, sie auf der Leinwand einzufangen. «
Seine schlichte Ausdruckskraft stand so im Widerspruch zu dem Menschen, als der er Jilly bisher erschienen war, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Immerhin war ihr klar, dass hier keiner der scharfen, mit giftigem Sarkasmus durchsetzten Kommentare gefragt war, die ihre Zunge zittern ließen wie die einer Schlange, die sich mit entblößten Zähnen aufs Zustoßen vorbereitete. Solche leichtfertigen Erwiderungen, solch oberflächlicher Humor waren angesichts seiner offenkundigen Aufrichtigkeit gleichermaßen unangemessen und unangebracht. Damit nicht genug, Jillys gewohnte Selbstsicherheit und Besserwisserei verließen sie, weil die Gedankentiefe und die Bescheidenheit seiner Antwort sie ins Wanken brachten. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich unzulänglich und leer fühlte. Ihre Schlagfertigkeit, die sie bislang immer wie ein Schlachtschiff mit geblähten Segeln getragen hatte, war zu einem kleinen Ruderboot geworden und in seichtem Wasser auf Grund gelaufen.
Dieses Gefühl mochte sie gar nicht. Zwar hatte Dylan bestimmt nicht beabsichtigt, sie herabzusetzen, aber gedemütigt fühlte sie sich trotzdem. Als einstiges Chormädchen, das den größten Teil seines Lebens brav in die Kirche gegangen war, begriff Jilly die These, Demut sei eine Tugend und ein Segen, weil sie ein glücklicheres Leben garantiere als das Leben jener, die ohne sie auskamen. War der Pfarrer bei der Predigt jedoch auf dieses Thema eingegangen, hatte sie die Ohren auf Durchzug gestellt. Mit vollendeter Demut zu leben statt mit dem absoluten Minimum, das der liebe Gott forderte, wäre in den Augen der jungen Jilly darauf hinausgelaufen, das Leben aufzugeben, bevor man damit angefangen hatte. Die erwachsene Jilly hatte mehr oder weniger dasselbe Gefühl. Die Welt war voller Menschen, die nur darauf warteten, einen zu demütigen, zu
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