Kaltblütig
ein fettes, altes Arbeitspferd, dem es nichts ausmachte, drei oder vier Kinder auf seinem breiten Rücken spazieren zu tragen. Mr. Clutter gab Babe das Kerngehäuse seines Apfels und wünschte dem Mann, der im Pferch Mist zusammenharkte, einen guten Morgen. Der Mann hieß Alfred Stoecklein und wohnte als einziger Angestellter auf dem Hof. Die Stoeckleins und ihre drei Kinder lebten in einem kleinen Haus kaum hundert Meter vom Haupthaus entfernt; sie waren im Umkreis von einer halben Meile die einzigen Nachbarn der Clutters. Stoecklein, ein Mann mit langem, schmalem Gesicht und langen, braunen Zähnen, fragte: »Steht heute was Besonderes an? Das Baby ist nämlich krank. Meine Frau und ich haben uns die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, und eigentlich würde ich die Kleine gern zum Arzt bringen.« Mr. Clutter versicherte ihn seines Mitgefühls und riet ihm, den Vormittag auf alle Fälle freizunehmen, und wenn er oder seine Frau ihm helfen könnten, solle er es ihnen sagen.
Dann folgte er dem Hund nach Süden, zu den abgeernteten, jetzt wüstenfarbenen Feldern, deren Stoppeln in der Morgensonne golden glänzten.
Von hier aus war es nicht mehr weit zum Fluss, an dessen Ufer sich ein kleiner Obstgarten erstreckte – Pfirsiche, Birnen, Kirschen und Äpfel. Vor fünfzig Jahren, so die Legende, hätte ein Holzfäller West-Kansas binnen zehn Minuten abgeholzt. Und noch heute pflanzt man hier nahezu ausschließlich Pappeln und chinesische Ulmen – immergrüne Bäume, die fast ebenso wenig Wasser brauchen wie Kakteen. »Zwei, drei Zentimeter mehr Regen im Jahr, und dieses Land wäre ein Garten Eden – ein Paradies auf Erden«, bemerkte Mr. Clutter oft.
Mit dem kleinen Obstbaumhain am Fluss versuchte er, der Natur das Stückchen Paradies, den grünen, von Apfelduft erfüllten Garten Eden seiner Träume, abzutrotzen, Regen hin oder her. »Diese Bäume bedeuten meinem Mann mehr als seine eigenen Kinder«, hatte seine Frau einmal gesagt, und ganz Holcomb erinnerte sich an den Tag, als ein kleines Flugzeug zwischen den Pfirsichbäumen notgelandet war: »Herb war außer sich vor Wut! Der Propeller stand noch nicht still, da hatte er dem Piloten schon eine Klage angehängt.«
Mr. Clutter ging durch den Obstgarten und weiter am Arkansas River entlang, der hier recht seicht war und voller Inseln – weiche Sandbänke in der Flussmitte, wo die Familie früher, an heißen Samstagund Sonntagnachmittagen, als Bonnie noch ganz »auf der Höhe« war, Picknicks veranstaltet und stundenlang auf ein Zucken am Ende der Angelschnur gewartet hatte. Mr. Clutter begegnete auf seinem Grundstück selten Unbefugten; es lag anderthalb Meilen abseits des Highways und ließ sich nur auf Schleichwegen erreichen, sodass selbst Fremde sich kaum zufällig dorthin verirrten. Nun erschien gleich eine ganze Gruppe, und Teddy, der Hund, stürmte laut bellend auf sie los. Aber irgendetwas stimmte nicht mit Teddy. Er war ein guter Wachhund, achtsam, tapfer und jederzeit zum Anschlagen bereit; er hatte nur einen Fehler: Kaum erblickte er, wie jetzt, ein Gewehr – denn die Eindringlinge waren bewaffnet –, senkte er auch schon den Kopf und zog den Schwanz ein. Niemand wusste, weshalb, denn davon abgesehen, dass er ein Streuner war, den Kenyon vor ein paar Jahren aufgelesen hatte, war über seine Vorgeschichte nichts bekannt. Die Besucher erwiesen sich als fünf Fasanenjäger aus Oklahoma. Die Fasanensaison lockt alljährlich im November Horden von passionierten Jagdliebhabern aus den Nachbarstaaten an, und im Laufe der vergangenen Woche hatten Heerscharen von kariert bemützten Waidmännern die herbstliche Umgebung durchstreift und mit ihren Schrotflinten in die aufflatternden Schwärme wohlgenährter kupferroter Vögel gefeuert. Falls die Jäger keine geladenen Gäste sind, ist es Usus, einen bestimmten Betrag an den Landbesitzer zu entrichten und so das Jagdrecht auf seinem Grund und Boden zu erwerben, doch als die Männer aus Oklahoma Mr. Clutter dies anboten, winkte der lächelnd ab und sagte: »Ich bin nicht so arm, wie ich aussehe. Nur zu, tun Sie sich keinen Zwang an.« Dann tippte er sich an die Mütze und lenkte seine Schritte heimwärts, um sich an sein Tagewerk zu machen, ohne zu ahnen, dass dies sein letzter Tag sein würde.
Wie Mr. Clutter trank auch der junge Mann, der in einem Café namens Little Jewel beim Frühstück saß, keinen Kaffee. Rootbeer war ihm lieber. Drei Aspirin, ein kaltes Rootbeer und eine Pall Mall nach der anderen
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