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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Schwester Nancy, der Liebling des Dorfes.
    Was seine Familie anging, gab es für Mr. Clutter eigentlich nur einen ernsten Anlass zur Besorgnis – die Gesundheit seiner Frau. Sie sei »nervös«, sie habe »kleine Anfälle« – das waren die beschönigenden Worte, mit denen Freunde und Verwandte ihren Zustand zu bemänteln pflegten. Dabei war die Wahrheit über das »Leiden der armen Bonnie« alles andere als ein Geheimnis; jeder wusste, dass sie sich in den vergangenen sechs Jahren mehrfach in psychiatrische Behandlung hatte begeben müssen. Doch selbst in dieses Dunkel schien langsam, aber sicher etwas Licht zu kommen. Vorigen Mittwoch, bei ihrer Rückkehr von einem zweiwöchigen Aufenthalt im Wesley Medical Centre in Wichita, wohin sie sich des Öfteren zurückzog, hatte Mrs. Clutter ihrem Gatten freudestrahlend die schier unglaubliche Nachricht überbracht, dass die Ursache ihrer Krankheit, so das einhellige Urteil der Ärzte, nicht im Kopf, sondern im Rückgrat zu suchen, mithin etwas Körperliches sei, wahrscheinlich ein verschobener Wirbel. Sie müsse sich natürlich einer Operation unterziehen, aber danach – nun, danach wäre sie wieder »ganz die Alte«.
    Konnte das wirklich sein – die Launen, die Zurückgezogenheit, das unterdrückte Schluchzen hinter verschlossenen Türen, alles nur wegen eines schlimmen Rückens? Wenn ja, dann konnte Mr. Clutter an der Thanksgiving-Tafel guten Gewissens ein Dankgebet gen Himmel schicken.
    Mr. Clutters Tag begann gewöhnlich um halb sieben, wenn das Scheppern der Milchkannen und das halblaute Geplapper der Lieferjungen – die beiden Söhne eines Landarbeiters namens Vic Irsik – ihn weckten. Heute aber blieb er noch ein wenig liegen und ließ sich von Vic Irsiks Söhnen nicht weiter stören, denn der Abend zuvor – ein Freitag, der 13. – war nicht nur amüsant, sondern auch anstrengend gewesen. Bonnie hatte ihr »altes Ich« wiederbelebt; ganz so als wollte sie einen Vorgeschmack auf ihre baldige Genesung, ihre zurückgewonnene Lebensfreude liefern, hatte sie Lippenstift aufgelegt, ihr Haar zurechtgemacht und ihn, in einem neuen Kleid, zur Holcomb School begleitet, wo sie einer Schulaufführung von Tom Sawyer applaudierten, in der Nancy die Becky Thatcher spielte. Er hatte es genossen, mit Bonnie unter Leute zu gehen, sie trotz ihrer Nervosität lächeln und plaudern zu sehen, und sie waren beide furchtbar stolz auf Nancy gewesen; sie hatte sich wacker geschlagen, nicht ein einziges Mal ihren Text vergessen und, wie er ihr nach der Vorstellung hinter der Bühne versichert hatte, »einfach hinreißend ausgesehen, Schatz – eine echte Südstaaten-Schönheit«. Worauf Nancy sich entsprechend benahm; sie lüpfte ihr Reifrockkostüm, machte einen artigen Knicks und fragte, ob sie noch nach Garden City fahren dürfe. Im State Theatre gebe es um halb zwölf, extra zu Freitag, dem 13. eine Sondervorstellung, einen »Gruselfilm«, und all ihre Freundinnen gingen hin. Normalerweise hätte Mr. Clutter nein gesagt.
    Sein Wort war Gesetz, und eines seiner Gesetze lautete: Nancy – und auch Kenyon – müssen wochentags um zehn, samstags um zwölf zu Hause sein. Aber von dem erfreulichen Verlauf des Abends milde gestimmt, hatte er eingewilligt, und Nancy war erst gegen zwei nach Hause gekommen. Er hatte sie hereinschleichen hören und zu sich gerufen, denn obwohl er eigentlich nie laut wurde, hatte er ihr doch das eine oder andere zu sagen, weniger über die späte Stunde als vielmehr über den jungen Mann, der sie nach Hause gefahren hatte – Bobby Rupp, einer der Basketballstars der Schule.
    Mr. Clutter mochte Bobby. Für einen Jungen seines Alters – er war siebzehn – schien er erstaunlich zuverlässig und manierlich; doch in den drei Jahren, seit sie sich mit Jungen treffen durfte, hatte Nancy, seine bildhübsche, beliebte Nancy, sich nie für einen anderen interessiert, und obwohl Mr. Clutter durchaus wusste, dass es unter jungen Leuten heutzutage Sitte war, Pärchen zu bilden, miteinander zu »gehen« und »Verlobungsringe« auszutauschen, hatte er doch etwas dagegen, besonders seit er seine Tochter und den kleinen Rupp zufällig, vor nicht allzu langer Zeit, beim Knutschen ertappt hatte. Er hatte Nancy nahegelegt, sich »nicht mehr so oft mit Bobby zu treffen«, und ihr geraten, sich nach und nach von ihm zurückzuziehen, da dies nicht ganz so schmerzlich sei wie eine abrupte Trennung, zu der es, wie er ihr einschärfte, früher oder später kommen müsse. Die

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