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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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selbstbewussten und entschlossenen Menschen wie ihm gar nicht gewohnt ist. »Natürlich bin ich nervös«, sagte er. »Wie auch nicht? Schließlich ist es Ihr Buch. Angenommen, der Film gefällt Ihnen nicht?«
    Eine berechtigte Frage und zugleich eine, die ich mir selbst nie gestellt hatte, wohl weil ich an so vielen Entscheidungen beteiligt war und meine eigenen Entscheidungen für gewöhnlich nicht mehr anzweifle.
    Als ich Tags darauf in den Columbia-Studios eintraf, war Brooks noch nervöser. Mir schien, er steigerte sich da in etwas hinein. Er sagte: »Also, dieser Film hat mir schon viele schlaflose Nächte bereitet, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.« In dieser Stimmung betraten wir den Vorführraum, aber es hätte auch die Todeszelle sein können.
    Brooks nahm den Hörer ab und war mit dem Projekttorraum verbunden. »Okay, Film ab!«
    Die Beleuchtung erlosch, und auf der weißen Leinwand erschien ein Highway in der Dämmerung: die Route 50, die sich unter diesem riesigen Himmel durch eine Landschaft windet, welche so leer ist wie eine ausgehöhlte Maisschote und so schwermütig wie nasses Laub. Am Horizont taucht ein silberner Greyhound-Bus auf, wird im Näherkommen größer und lauter und fährt vorbei. Musik: eine einzelne Gitarre. Dann beginnt der Vorspann, und das Bild verschwimmt zu einer Innenansicht des Busses.
    Dort döst noch alles, nur ein kleines Mädchen läuft durch den Mittelgang in den dunkleren hinteren Teil des Fahrzeugs, angelockt vom einsamen Plonkaplonk der Gitarre.
    Sie entdeckt den Gitarristen, aber wir sehen ihn nicht. Sie sagt etwas zu ihm, aber wir verstehen nicht, was. Der Gitarrist steckt sich mit einem Streichholz eine Zigarette an, und die Flamme beleuchtet teilweise sein Gesicht. Es ist Perrys Gesicht und Perrys müder, distanzierter Blick.
    In den nächsten Einstellungen sehen wir erst Dick, dann Dick und Perry in Kansas City, dann in Holcomb, dann Herbert Clutter beim Frühstück am Tag seiner Ermordung, anschließend wieder seine Mörder – dieselbe Montagetechnik wie in meinem Buch.
    Die einzelnen Szenen entwickeln sich mit erstaunlicher Folgerichtigkeit, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass dabei etwas verlorengegangen ist, ein Gefühl, das sich um mein Herz legt wie die eisige Korona eines Herbstmondes. Es liegt nicht daran, was auf der Leinwand zu sehen ist, das hat alles seine Richtigkeit. Es liegt an dem, was alles fehlt. Warum zum Beispiel ist dieses oder jenes Detail rausgeflogen? Wo ist Bobby Rupp? Susan Kidwell? Die Postangestellte und ihre Mutter? Während ich davon noch so abgelenkt war, dass ich gar nicht würdigen konnte, was der Film wiederum alles enthielt, fing der Film Feuer. Wie ein Reißverschluss lief eine kleine gemeine Flamme durch den Filmstreifen und verschmorte das Bild. »Das ist nicht schlimm, nur eine kleine Panne«, sagte Brooks in der darauffolgenden Stille. »Das passiert nicht zum ersten Mal. Das haben wir in einer Minute.«
    Ein glücklicher Zufall, könnte man sagen, denn während der Filmvorführer den Schaden reparierte, konnte ich meinen inneren Konflikt beilegen. Jetzt hör mal gut zu, sagte eine Stimme in mir, was du verlangst ist nicht nur unrealistisch, sondern auch unfair. Der Film dauert zwei Stunden, länger darf er nicht sein. Wenn Brooks noch all das hineingestopft hätte, was dir so ans Herz gewachsen ist, jedes Detail, dem du jetzt hinterherheulst, dann wäre das Ding neun Stunden lang! Also hör endlich auf. Schau dir den Film an und genieße ihn als das, was er ist, dann darfst du meinetwegen auch eine Meinung dazu haben.
    So habe ich es dann gemacht, und mir kam es vor, als schwimme ich hinaus auf ein wohlvertrautes Meer, wo dennoch Wellen auf mich warteten, die ich in dieser Höhe nicht erwartet hatte, gefährliche Strömungen, die mich nach unten auf den Meeresgrund zogen und mich am Ende völlig fertig und erschlagen an einen einsamen Strand warfen – und unglücklicherweise nicht als das Opfer eines Alptraums oder »nur« eines Films, sondern wie nach einem Angriff der Realität.
     
    Die Leinwand kehrte zu ihrem nüchternen Weiß zurück, das Licht ging an. Aber wie schon in jenem Motel in Garden City erwachte ich, ohne zu wissen, wo ich war.
    Neben mir saß ein Mann. Wer war er, und warum sah er mich so eindringlich an, als warte er darauf, dass ich jetzt etwas sagte? Richtig, es war Brooks. Schließlich sagte ich:
    »Ach so, was ich sagen wollte: vielen Dank auch.«
     
     

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