Kalte Berechnung - Eine Rachegeschichte
Süßholzraspeleien, nur klare Forderungen. Schnell drücke ich die Nachricht weg und schaue auf die Uhr auf dem Display. Sie verrät mir, dass ich noch mehr als eine Stunde Zeit habe. Ich stecke das Gerät wieder ein.
Als ich den Blick wieder hebe, sehe ich Dich.
Du stehst regungslos in der Menge, noch etwa fünfzehn Meter von den Treppen entfernt und starrst zu mir empor. Mein Puls, der gerade wieder zur Ruhe kam, beschleunigt sich sofort. Erschrocken stehe ich auf, stoße dabei den Becher um. Obwohl ich sicher bin, dass auch Du mich gesehen hast, weiche ich zurück. Versuche, mich instinktiv tiefer im Schatten zu verkriechen.
Wollte ich Dich nicht zuerst entdecken und vermeiden, dass Du mich siehst? Den Gegner unbemerkt aus der Ferne abschätzen? Stattdessen verharre ich wie ein Reh im Scheinwerferlicht, unschlüssig, was ich tun soll. Noch ist nicht die Zeit, hier nicht der richtige Ort. Es ist noch zu früh.
Als Du Dir sicher bist, dass ich Dich entdeckt habe, lächelst Du mir zu und winkst. Lässig. Was soll ich tun, wenn Du gleich zu mir heraufkommst? Für einen Moment fühle ich mich weniger wie ein Jäger auf seinem Hochstand, mehr wie ein Tier, das geradewegs in die Falle gelaufen ist. Ich erwäge, auf die andere Seite des stählernen Riesen zu eilen, dort die Treppen runter zu rennen und mich unter die Leute zu mischen. Ist es in der Menge sicher? Und was dann?
Oder soll ich es hier tun?
Doch Dein Winken ist Begrüßung und vorläufiger Abschied zugleich. Du drehst Dich um und verschwindest wieder in der anonymen Masse. Mein Blick folgt Dir. Endlich löst sich meine Starre. Dich nicht aus den Augen lassend, renne ich die Treppe hinunter, werfe mich ebenfalls ins Gedränge und kämpfe mich in die Richtung durch, in die ich Dich eben noch gehen sah. Ich will Dich nicht verlieren, will genau wissen, wo Du bist. Denn wer den anderen observiert, kann nicht das Opfer sein.
Eine kurze Zeit gelingt es mir, Dich zu verfolgen, den Hinterkopf zu sehen, welchen ich für Deinen halte. Doch immer wieder stehe ich vor einer lebendigen Mauer aus Fleisch, finde keinen Spalt, durch den ich schlüpfen könnte. Unter Einsatz meiner Ellenbogen, was die Malträtierten nur unter Protest hinnehmen, kämpfe ich mich durch. Doch schon nach ein paar Minuten erweist Du Dich als die Nadel, die ich in diesem Heuhaufen tanzender Leiber verliere und nach der ich nun vergebens suche. Ich drehe mich im Kreis, versuche, über die Köpfe hinwegzusehen, verliere immer mehr die Orientierung. Schließlich gebe ich auf. Es wird zu heiß, zu beklemmend inmitten der zahllosen Fremden. Zu eng in dieser Jeans, die an meiner schwitzenden Haut klebt wie eine zweite. Obwohl ich mich unter freiem Himmel befinde, überkommt mich ein klaustrophobisches Gefühl. Die aufdringlichen Körpergerüche der Umstehenden rauben mir den Atem. Das Hundehalsband beengt meine Kehle und ich bekomme keine Luft mehr. Der Typ links von mir mustert mich kritisch. Leise, wie aus weiter Ferne, dringt seine Stimme zu mir durch: „Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“
Für den Bruchteil einer Sekunde verliert mein Kreislauf die sonstige Stabilität und ich gerate ins Schwanken. Als der Fremde besorgt nach meinem Ellbogen greifen will, um mich zu stützen, weiche ich seinem Griff hastig aus. Ich schüttle den Kopf, zwinge mich zu atmen. Nein, nichts ist in Ordnung. Gar nichts. Aber ich will keine Hilfe. Brauche keine. Er zuckt mit den Schultern, „Dann eben nicht“, und dreht sich wieder in Richtung Bühne.
Ich suche mir einen Fixpunkt am Rande der Menge, den größten und gewaltigsten der fünf ausgestellten Bagger, und kämpfe mich zu diesem Ruhepunkt durch. Je näher ich ihm komme, desto mehr verliert sich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und langsam kehre ich zu meinem normalen, gefassten Zustand zurück. Kann wieder klar denken.
Es wundert mich nicht, dass auch Du einem Zusammentreffen zum jetzigen Zeitpunkt aus dem Weg gehen willst. Das kurze Intermezzo diente nur dem Zweck, Dir die Gewissheit zu verschaffen, dass ich auch wirklich hier bin. Vielleicht auch als Vorgeschmack, als kurzer Blick auf Deine Beute. Ein Vorspiel. Was Du willst, erfordert einen abgeschiedenen Treffpunkt, ebenso wie den Schutz, den die Dunkelheit Dir bietet. Damit niemand sieht, wie Du es mit einem Kind treibst, und vor allem nicht, was Du danach tust. Oder davor? Nein, bestimmt tust Du es hinterher, denn währenddessen willst Du Deine Macht und die Hilflosigkeit Deines Opfers
Weitere Kostenlose Bücher