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Kalte Berechnung - Eine Rachegeschichte

Kalte Berechnung - Eine Rachegeschichte

Titel: Kalte Berechnung - Eine Rachegeschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Maucher
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riesigen Gemini wieder in die Richtung, aus der ich auf der anderen Seite gekommen bin.
    Normalerweise ist der 125 Meter lange Koloss für Besucher geöffnet und begehbar, doch heute ist er für die Öffentlichkeit gesperrt. Ich bin dankbar, dass hier hinten wenig Betrieb herrscht, da der Stahlklotz und die am Ausleger befestigte Leinwand den Konzertbesuchern die Sicht auf das Bühnengeschehen nimmt. Um zu wissen, was auf der anderen Seite passiert, muss ich nichts sehen: Sowohl das Abendrot als auch der frenetisch einsetzende Applaus verraten mir, dass der Hauptakt beginnt und die verbliebene Zeit in der Sanduhr bald abgelaufen sein wird.
    Sand. Mein Blick fällt auf den kargen Spielplatz, ein Klettergerüst und den riesigen Sandkasten, in dem Baggerminiaturen die kleinen Museumsbesucher spielerisch in die Zeit des Braunkohletagebaus zurückversetzen sollen. Unvermittelt fallen mir die Turnschuhe wieder ein, die das verletzte Mädchen vorhin trug, und die im Sand buddelnden Hände meiner Kinder, als sie noch jünger waren. Ich denke zurück, daran wie klein und hilflos sie waren, als sie zur Welt kamen. An die Liebe, die ich empfand, als ich zum ersten Mal in ihre unschuldigen Augen blickte. Wie sehr sie meinen Schutz brauchten …
    Auch ich fühle mich diesem Moment klein und schutzlos. Soll ich es für einen Zufall halten, dass Du mich in Blickweite eines Kinderspielplatzes vögeln und umbringen willst? Plötzlich empfinde ich den über mir aufragenden Tagebaugiganten als bedrohlich. Als wäre er ein Schuh, der Unheil bringend den Himmel verdunkelt und mich kleine Ameise gleich zertreten wird. Angst schafft sich eine Heimstatt in meinem Gedärm. Zum ersten Mal, seit ich mich auf den Weg hierher gemacht habe, kommen mir Zweifel, ob ich meiner Aufgabe gewachsen sein werde.
    Natürlich habe ich, nachdem ich herausfand, wer Du wirklich bist, darüber nachgedacht, ob ich nochmals zur Polizei gehen sollte. Doch was dann? Darüber habe ich mir lange Gedanken gemacht. Selbst wenn sie Dich fassen, was passiert weiter? Zehn Jahre Knast mit anschließender Sicherheitsverwahrung? Und das Risiko eingehen, dass ein Staatsanwalt den dazu notwendigen Antrag zwei Wochen zu spät stellt? Immer fürchten, dass Du doch wieder auf freien Fuß kommst? Machst Du dann da weiter, wo Du aufgehört hast? Womöglich suchst Du uns erneut heim, selbst wenn mein Mädchen schon viel zu alt sein wird für Deinen Geschmack. Vielleicht kommst Du wieder, um zu vollenden, was Du begonnen hast und um Rache zu nehmen für die verlorenen Jahre Deines unwerten Lebens. Immer wieder lese ich von solchen Dingen in der Zeitung.
    Auch das Risiko, dass meine Tochter durch ihre Rolle bei Deiner Ergreifung ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rücken könnte, wog ich ab. Wahrscheinlich würde die sensationslustige Pressemeute uns förmlich zerfleischen. Möchte ich ein Bild von meinem Kind in den Schmierblättern dieses Landes sehen – womöglich diejenigen, mit denen Du sie unter Druck gesetzt hast und die man sicher auf Deinem Rechner finden wird, und darüber eine Schlagzeile wie Diese Lolita sollte das nächste Opfer des Killers sein ? Wie sollen wir uns sicher fühlen, solange Du noch atmest?
    Du hast versucht, aus etwas Schönem etwas Dreckiges zu machen. Heute willst Du sie noch mehr besudeln und anschließend wie Abfall entsorgen. Hast Du Dir in Deinem Leben je Gedanken um Andere gemacht?
    Nein, nochmals zur Polizei zu gehen habe ich als Option verworfen. Ich werde mir selbst helfen; mich von meinen Ängsten und die Welt von Dir befreien. Zunächst machte mir dieser Gedanke Angst. Er war fremd und ungeheuerlich, schien nicht mein eigener zu sein … und doch fühlte er sich nicht an wie eine flüchtig daher gedachte Floskel. Anfangs hypothetisch, als müsse ich mich erst an ihn gewöhnen, befasste ich mich mit ihm, bis er mir so vertraut war, dass es fast unausweichlich erschien, Dich zu töten. Und so ging ich, ebenso wie Du, zur tatsächlichen Planung über.

Sechs

    Obwohl der Applaus mich gewarnt hat, zucke ich zusammen, als die Musik wieder einsetzt und die Hauptgruppe ihren Auftritt beginnt. Ich lächle, als ich den Song erkenne; einen Moment lang bedaure ich, dass ich mir die Band nicht ansehen kann, deren Musik an diesem Abend nur für mich zu spielen scheint. Ich löse den Blick von dem Kinderspielplatz, richte ihn stattdessen auf mein dahinter liegendes Ziel, den riesigen Schaufelradbagger, der auf seinem Raupenfahrwerk thront, und straffe

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