Kalte Fluten
das erfrischend kalte Süßwasser der durch die Gletscher entstandenen oberbayerischen Seen. Chiemsee. Starnberger See. Tegernsee. Aber doch nicht das salzige, unruhige, stürmische Wasser der Ostsee.
Er stellte den Corolla ab und ging schweren Schrittes zur Haustür. Caroline schaute ihn erwartungsfroh an. Sie wollte Lydia sehen. Sie wollte sich um sie kümmern. Sie hatte sie doch zur Welt gebracht. Lydias erste Nahrung war ihre eigene Milch gewesen. Sie hatte die vollgeschissenen Windeln gewechselt. Warum sollte sie es nicht auch jetzt schaffen, ihrem Sonnenschein wieder ins Leben zu helfen? Aber es kam niemand außer einem gebeugt laufenden Mann, der alles andere als eine überlegene, siegessichere Männlichkeit ausstrahlte.
»Wo ist sie?«, fragte Caroline. Sie hatte Tränen in den Augen. Schmerzhaft wurde ihr klar, dass Lydia von ihnen nichts mehr wissen wollte.
Wolfgang zog nur kurz die Schultern hoch, sagte: »Abgehauen« und ging an seiner Frau vorbei ins Wohnzimmer. Caroline hatte eine weiß-blaue Girlande aufgehängt. Der Tisch war gedeckt. Weißwürste, Leberkäs mit süßem Senf, dem guten von Händlmaier natürlich, frisch aufgebackene Brezn, Radi, Obatzter. Alles, was zu einer deftigen bayerischen Brotzeit gehört, hatte Caroline in der Diaspora besorgt und aufgetischt. Lydia sollte sich darauf freuen, dass es bald zurückginge. Zurück in das verlassene Paradies.
Heimlich hatte Caroline schon mit Maklern gesprochen. Wenn sie das Haus verkaufen würden, könnten sie sogar richtig Plus machen. Reetgedeckte Häuser waren in den letzten Jahren total interessant geworden. Besonders wenn sie, wie das ihre, in einem aufstrebenden Urlaubsort lagen. Der Kaufpreis wäre wesentlich höher als die Hypothek. Mit etwa hunderttausend Euro Gewinn und den siebzigtausend, die sie gespart hatten, könnten sie auch im Süden etwas kaufen. Sogar in München.
Doch es war zu spät. Lydias Paradies war nicht mehr an einen Ort gebunden.
Caroline schaffte es nicht, ihren Mann in den Arm zu nehmen. Zu sehr machte sie ihn tief in ihrem Inneren für Lydias Drogensucht verantwortlich. Wolfgang wiederum hatte keine Kraft, seiner Frau zu zeigen, wie sehr er sie liebte, wie sehr er sie schätzte und wie sehr er sie jetzt brauchte.
Sie saßen sich gegenüber. Schwiegen sich an.
Wolfgang trank ein Weißbier. Dann ein zweites. Beim dritten stand er auf und holte die Flasche Obstler. »Auch ein Stamperl?«, fragte er.
Caroline schüttelte den Kopf. Sie stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. Sie schuf äußere Ordnung als Ersatz für die irreparabel zerstörte innere Ordnung ihres Lebens. Als sie die letzten Krümel vom Tisch fegte, hatte Wolfgang bereits das sechste Stamperl intus und blickte sie aus glasigen Augen an.
»I geh jetzt schlaffa«, sagte sie in breitestem Bayerisch.
Er nickte und schenkte sich einen weiteren Schnaps ein. Langsam erholte sich seine Psyche von den Selbstvorwürfen. Irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit, und er schlief angezogen und laut schnarchend auf dem Sofa ein. Das passierte ihm immer häufiger.
Caroline verachtete ihn dafür. Immer mehr.
***
Fritjof Hansen war extrem schlechter Laune, als es klingelte. Er stellte seinen Whisky-Tumbler ab, ging zur Tür und schaute durch den Spion. Was will die denn?, dachte er, öffnete aber dennoch die Tür zu seiner aufwendig renovierten Altbauwohnung in der Innenstadt Rostocks.
»Hallo, Lydia«, sagte Fritjof.
Wie selbstverständlich betrat sie den großen Flurbereich, schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn leidenschaftlich. Er ließ es geschehen. Er wehrte sich nicht, aber er erwiderte ihre Leidenschaft auch nicht.
»Da bin ich wieder«, sagte sie und strahlte ihn an.
Das sehe ich, dachte er nur.
»Komm rein«, murmelte er. »Nimm dir was zu trinken, ich muss mal kurz telefonieren.«
Sie nickte, ging ins Wohnzimmer, nahm sich einen Gin und flegelte sich auf das Sofa. Bis Fritjof aus seinem Büro zurückkäme, würde sie sich mit der Fernbedienung und dem großen Fernseher amüsieren.
Fritjofs schlechte Laune war weniger auf Lydias überraschende Rückkehr zurückzuführen. Er hatte vielmehr geschäftliche Probleme. Große Probleme, weil er mit seinem Unternehmen gerade eine Abschreibung von fünfzigtausend Euro verkraften musste. Selbst für ihn eine Summe, die ihn traf.
Fritjof war in Rostock geboren, hier aufgewachsen und außer zu Urlauben nie aus der Stadt gekommen. Eigentlich war er ein sehr guter, ambitionierter Schüler
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