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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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übergab.
    »Vielen Dank«, murmelte Wiebke. Gutes Benehmen war selten geworden. So selten, dass sie keine Ahnung hatte, wie man am besten darauf reagieren sollte.
    Er hatte das »Carlo615« direkt am Warnowufer ausgesucht. Ganz offensichtlich war Thomas hier schon öfter gewesen, denn die Kellner begrüßten ihn herzlich, und auch der Inhaber Carsten Loll ließ es sich nicht nehmen, ihn und seine charmante Begleitung, wie er sagte, auf das Herzlichste willkommen zu heißen.
    Carsten Loll wies mit einer einladenden Geste auf den für sie reservierten Tisch, auf dem die Kerzen bereits brannten und wo in zwei Gläsern der Prosecco perlte. Auf den Platztellern lag jeweils eine rote Rose. Die Menükarte war handgeschrieben. Thomas hatte Carsten Loll vorher eindeutige Anweisungen gegeben. Dieser hatte offensichtlich verstanden.
    Beeindruckt ließ sich Wiebke zu ihrem Platz führen. Thomas rückte ihr den Stuhl zurück. Sie nahm wortlos Platz. Nicht nur, dass es ihr erstes romantisches Rendezvous seit Langem war. So viel Mühe hatte sich noch nie ein Mann gegeben. Noch nie.
    Von ihrem Platz aus konnte sie auf die Warnow blicken, deren Wasseroberfläche die letzten Strahlen der untergehenden Sonne reflektierte. Die im Hafen vertäuten Segelboote schaukelten sanft im leichten Wind. Gedämpft drang die maritime Geräuschkulisse des Hafens, vor allem der melodische Klang der Wanten und Stagen, in das Lokal. Draußen flanierten die Menschen. Wiebke bemerkte erstaunlich viele verliebte Pärchen. Sie wünschte sich, heute Abend genau das zu erleben.
    Thomas setzte sich ihr gegenüber, rückte die geschmackvolle Krawatte zurecht, die farblich perfekt zu seinem dunkelblauen Anzug passte und zudem dezent maritim gemustert war, nahm sein Glas und prostete ihr zu.
    Wiebke zitterte, als sie ihr Glas in die Hand nahm. Hoffentlich hält er mich mit dem Tatterich nicht für eine Säuferin, dachte sie.
    »Ich wünsche uns beiden einen schönen Abend«, sagte er.
    »Danke.« Sie wollte sagen: »Ich dir auch.« Aber offiziell waren sie ja noch beim Sie. Sie nahm also allen Mut zusammen. »Ich möchte, dass wir … äh«, stammelte sie. »Also, ich bin ja die Frau, und deshalb … also, ich heiße Wiebke.«
    Thomas lächelte und sagte: »Dann bin ich der Thomas.«
    Das wäre geschafft, dachte Wiebke und atmete auf. Das Eis taute. Wenn auch langsam.
    »Ich hoffe, das Menü gefällt dir«, meinte Thomas, als er Wiebke beim Studieren der Karte beobachtete.
    »Ganz ausgezeichnet. Woher wusstest du, dass ich für Lammrücken sterben könnte?«
    »Ich könnte jetzt sagen, dass ich das geahnt habe. Aber ich will ehrlich sein. Es war eine kleine Indiskretion deines Kollegen Wolfgang Franke. Übrigens ein ganz sympathischer Mann«, sagte Thomas.
    Wiebke liefen Schauer der Rührung über den Rücken.
    Während der Vorspeise, ja, bis weit in den Hauptgang hinein, erzählte nur Wiebke. Thomas verstand es geschickt, ihr Fragen zu stellen. Er lenkte das Gespräch so, dass sie gar nicht bemerkte, dass nur sie alles von sich, er jedoch nichts von seiner Person preisgab. Sie gab Anekdoten aus ihrer Kindheit in der DDR zum Besten. Sie berichtete von ihrem Schicksal als Einzelkind, vom frühen Tod ihres Vaters, von ihrer Schulzeit, von der Zeit bei der Volkspolizei und von ihren Schwierigkeiten nach der Wende, als ehemaliges Parteimitglied doch noch Beamtin werden zu können. Sie erzählte, wie ihr Wolfgang Franke dabei geholfen hatte. Sie breitete ihr halbes, fast sogar drei Viertel ihres Lebens vor ihm aus.
    Sie plauderten. Sie lachten. Sie verstanden sich blendend. Doch auf einmal hielt Wiebke inne.
    »Hör mal, ich erzähle hier die ganze Zeit. Von dir höre ich aber so gut wie nichts.«
    »Du weißt doch, wer ich bin«, sagte er phantasielos.
    »Ich weiß nur, dass du ein wahnsinnig gut aussehender, sympathischer Mann bist und hier in Rostock als Psychiater an der Uni-Klinik arbeitest. Aber was bist du für ein Mensch? Wo kommst du her? Was ist mit deinen Eltern? Hast du Geschwister?«
    Thomas starrte in sein Glas und erwiderte minutenlang nichts.
    »Da gibt es nicht viel zu berichten«, sagte er dann tonlos.
    »Doch, das gibt es.« Wiebkes Ton war fordernd. »Los, raus damit.«
    »Die Geschichte langweilt dich bestimmt«, wich Thomas aus.
    »Lassen wir es darauf ankommen.«
    »Es ist aber keine schöne Geschichte.«
    »Thomas, bitte.«
    »Also gut. Wie du willst. Ich habe das erleben müssen, was man eine schreckliche Kindheit nennt. Meine Eltern sind

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